An den Stationen stehen stets zweierlei Wasserträger zur Gratiserquickung
der ärmeren Reisenden bereit, und zwar solche mit großen Ton- oder Bronzekrügen für die brahminischen Hindus, denen das Wassertragen in Schläuchen
aus Fell vom „heiligen“ Rindvieh, wie dies von seiten der mohammedanischen
Inder geschieht, ein Greuel ist. Das Trinkgefäß wird jedoch nie mit den
Lippen berührt, sondern das Wasser wird in den geöffneten Mund geschüttet,
denn es könnte ja ein Mensch von niederer Kaste aus diesem Gefäß getrunken
haben! Zur Warnung für Strenggläubige legt auch der Wasserträger seine
rote Gürtelbinde ab, wenn er nicht dafür bürgen kann, daß das Wasser des
Tümpels, aus dem er schöpfte, vollkommen rein im brahminischen, im religiösen
Sinne war; ob es sonstwie verunreinigt oder ungesund ist, darauf
kommt es nicht im mindesten an.
Neuerdings soll jedoch nur noch
filtriertes Wasser verabreicht werden, wie überhaupt in hygienischer
Hinsicht jeder mögliche Fortschritt
versucht wird.
Reisende Hindus machen sich diese Wasserspende eifrig zu nutze. Der eine wäscht zuerst sich und hierauf seinen Turban damit und hält diesen dann wie einen hellfarbigen, nachflatternden Wimpel zum Trocknen aus dem Fenster des Eilwagens; andere kommen gar auf die Idee, ihre Wasserration über ihre dünnen, nackten Lerchenwaden zu gießen und sie dann zu erquicklicher Abkühlung aus den Wagenfenstern zu hängen, doch weiß ich nicht, ob es Warnungstafeln gibt, auf denen steht: „Man bittet Köpfe, Beine und Hände nicht aus dem Fenster zu stecken,“ da Tunnels auf den Bahnen der indischen Ebene nicht vorkommen. Die rotbeturbanten, blauröckigen Polizisten auf den Stationen scheinen gegen dieses uns befremdende Aushängen der Beine nicht viel einzuwenden; wahrscheinlich machen sie es bei ihren Reisen auch nicht anders.
Die Einfahrt in eine größere Station ist für den Neuling einigermaßen aufregend, namentlich wenn er den Zug wechseln muß. In dichten Schwärmen kommen die Gepäckträger, die Kulis, dem Zuge entgegen und hängen sich wie Kletten an die Wagen, vorzugsweise an die der ersten Klasse. Ein Lendentüchlein und ein riesiger Turban bilden die Bekleidung dieser gewöhnlich vor Hunger und Aufregung zitternden, zähneklappernden Kulis; nur in großen Stationen scheint darauf gesehen zu werden, daß ein lumpiges, mit einer großen
Kurt Boeck: Durch Indien ins verschlossene Land Nepal. Ferdinand Hirt & Sohn, Leipzig 1903, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Durch_Indien_ins_verschlossene_Land_Nepal.pdf/90&oldid=- (Version vom 1.7.2018)