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Die Vernunft sollte für uns wirklich der einzige legitime Ratgeber sein. Die Kant'sche reine Vernunft, die mit dem Kriege die Länder Europas als Flüchtling verlassen mußte, und in unseren friedlichen Bergen eine letzte Zufluchtsstätte sucht. Die Vernunft, die keineswegs bloß krasser Egoismus, sondern Gerechtigkeit ist. Wenn wir uns als Schweizer fühlen wollen, so müssen wir unsere Sentimentalität auf die Pflichten konzentrieren, die unsere Neutralität mit sich bringt. Wir haben hier ein weites Feld, unser Herz sprechen zu lassen. Und daß wir diese sentimentalen Neutralitätspflichten erkannt haben, das zeigt die wohltätige Gründung der Korrespondenzbureaus für den Gefangenenverkehr, zeigt die Initiative für den Austausch der Zivilinternierten und die Fürsorge für die belgischen Flüchtlinge.

Aber weg mit den ausländischen Originalberichterstattern in unsern Schweizerzeitungen, die den Zwiespalt der kriegführenden Mächte in unser Lesepublikum tragen. Die Redaktionen sollen sich für diese Zeit der Schere entwöhnen und selber die Feder führen. Neutralität ist ihrem Wesen nach Isolierung, Ausschaltung fremder Interessen und fremder Einflüsse. Wir sind stark genug, mit der Krise selber fertig zu werden.

Auch dem altberühmten Bundesstadtklatsch sollte man in diesen Tagen einen Maulkorb anlegen können. In Friedenszeiten ist er ja nicht uninteressant und historisch nicht ganz wertlos. Ein Stücklein Wahrheit steckt ja meist in diesen Anekdoten, deren Elemente durch eifrige Journalisten im Antichambre Bundesweibeln und Kanzlisten abgelauscht und mit den spontanen Bemerkungen und Mienenspielen der Bundesväter beim Kaffeejaß kombiniert sind. Aber was in Friedenszeiten amüsant und höchstens boshaft klingt, könnte jetzt gefährlich werden. Die Kombinationsgabe überschreitet in solch abnormaler Zeit die normalen Grenzen, und das gesteigerte Sensationsbedürfnis verleiht diesen geflüsterten Anekdötchen Flügel. Aufgebläht, zerrissen, treiben sie im Wirbelwinde übers Land, werden aufgehoben

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Robert Durrer: Kriegsbetrachtungen. Rascher & Cie., Zürich 1915, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:DurrerKriegsbetrachtungen.pdf/25&oldid=- (Version vom 31.7.2018)