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gelber Pflaumen. Ich war fast bestürzt über diesen Reichtum. Aber bestechen ließ ich mich durch solche materiellen Dinge doch nicht. Meine Abneigung gegen diesen Ort der Erniedrigung blieb immer gleich groß. Tante Cilla unterstützte mich auch kräftig, als ich so energisch nach der „großen“ Schule verlangte; sie hielt mir später immer vor, daß ich ihr das gewonnene Jahr verdanke, und war sehr stolz auf meine Schulleistungen. Sie brachte auch das in einer mir sehr unangenehmen Form zum Ausdruck: sie nannte mich nämlich mit Vorliebe „Streberin“. Ich fühlte wohl, daß dies eine liebevolle Neckerei war. Aber es enthielt doch für mich einen Stachel.

Von früher Kindheit an wurde ich in der ganzen großen Verwandtschaft hauptsächlich durch zwei Eigenschaften charakterisiert: man warf mir Ehrgeiz vor (sehr mit Recht) und man nannte mich mit Nachdruck die „kluge“ Edith. Beides schmerzte mich sehr. Das Zweite, weil ich herauszuhören glaubte, daß ich mir auf meine Klugheit etwas einbildete; außerdem schien mir darin zu liegen, daß ich nur klug sei; und ich wußte doch von den ersten Lebensjahren an, daß es viel wichtiger sei, gut zu sein als klug. Als meine Cousine Leni Pick zu mir in die Klasse kam, setzte ihr Tante Cilla einen Preis von l Mark aus, wenn sie mich einmal überflügeln würde, d.h. in einem Zeugnis einen besseren Klassenplatz bekäme als ich. Die beiden aber waren von vornherein überzeugt, daß diese Prämie unerreichbar sei.

Bei Burchards war von der Begründung des Haushalts an immer offenes Haus gewesen. In der älteren Zeit trafen sich dort jeden Sonntag alle Brüder und Vettern meiner Mutter, die in Breslau auf der Schule oder Universität oder in kaufmännischen Stellungen waren. Dort waren später auch unsere unzertrennlichen Gefährten, die Zwillinge Hans und Franz, in Pension. Sie wurden von der Tante vorzüglich verpflegt, jeder mit seinen besonderen Lieblingsspeisen, wurden aber gelegentlich auch kräftig angefaßt. Wenn sie in den Flegeljahren einmal nicht gehörig gewaschen waren, wurden sie unter die Wasserleitung gehalten und gründlich abgeseift. Auch die Geburtstagskaffees waren hier besonders anziehend. Nirgends wurden wir im Kinderzimmer so reichlich mit Kuchen und Schlagsahne versehen; nirgends konnten wir ungestörter spielen. Nur eine unliebsame Unterbrechung gab es: wenn man an der Tafel der Großen erscheinen, rings herum die Hand geben und sich von allen älteren Tanten und Cousinen beaugenscheinigen lassen mußte. Mein größter Schrecken war ein Studienfreund meines Vetters, der nie an dieser Kaffeetafel fehlte: ein Arzt von vortrefflichem Charakter und vielseitiger Bildung, aber etwas überspannt und verstiegen in seinen Gedankengängen und Reden. Ich verkündete schon vorher

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 86. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/101&oldid=- (Version vom 31.7.2018)