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Ihr Mann hatte sich mit Fleiß und Energie vom Schlossergesellen zum vermögenden Fabrikbesitzer emporgearbeitet. Er arbeitete auch jetzt unermüdlich; wir bekamen ihn selten zu sehen, und wenn er da war, hörte man kaum ein Wort von ihm. Kaethe war mehrere Jahre meine Banknachbarin, und wir verstanden uns gut. In den Pausen und auf den Schulwegen hatten wir oft Gespräche über jene Fragen, die in der Schule zu kurz kamen; es war bei ihr wie bei mir das ernste Suchen nach Wahrheit erwacht. Trotzdem hörte auch zwischen uns der Verkehr auf.

Nach dem Verlassen der Schule dauerte es mehrere Jahre, bis Kaethe und ich uns nur einmal wieder begegneten. Es war 1909 bei einer Schiller-Gedenkfeier. Sie hatte sich kurz zuvor verlobt. Wir begrüßten uns mit aufrichtiger Freude, und sie bat mich herzlich, sie doch einmal wieder zu besuchen, möglichst auch Erna mitzubringen. Wir gingen auch bald einmal hin und verbrachten einen angeregten Abend zusammen. Der Bräutigam, ein junger Arzt, war nicht zugegen. Frau Kleemann freute sich besonders, als Arno uns abholen kam, weil er noch mehr als wir „Kleinen“ an die alten Zeiten erinnerte. Er mußte sich noch mit an den Teetisch setzen und einige Zeit bleiben. Es wurde uns ein Gegenbesuch versprochen, Frau Kleemann wollte auch mitkommen, um unsere Mutter wiederzusehen. Aber es kam nicht dazu. Es sollte über 20 Jahre dauern, bis wir uns wieder begegneten.

Es fiel mir auch nicht schwer, von zu Hause fortzugehen. Freilich war der Besuch in Hamburg zunächst nur für einige Wochen gedacht. Mein Vetter Franz sagte vor meiner Abreise, es sei so schlimm, daß ich keine Rückfahrkarte hätte. Sonst wüßte man, daß es sechs Wochen dauerte, und das wäre erträglich. Aber nun sei es ganz unabsehbar. Darüber lachte ich nur, und niemand von den Anwesenden wußte, wie berechtigt seine Befürchtung war. Er schrieb mir anfangs ziemlich häufig. Da ich aber nur ein- oder zweimal antwortete, unterließ er es schließlich. Es kam mir gar nicht in den Sinn, daß er die ausbleibenden Antworten als Zeichen von Gleichgültigkeit auffassen könnte. Als ich nach zehnmonatlicher Abwesenheit spät abends in Breslau ankam und beim Aussteigen ihm zuerst auf dem Bahnsteig begegnete, war mir das nur selbstverständlich. Die Zeit in Hamburg kommt mir, wenn ich jetzt darauf zurückblicke, wie eine Art Puppenstadium vor. Ich war auf einen sehr engen Kreis eingeschränkt und lebte noch viel ausschließlicher in meiner inneren Welt als zu Hause. Soviel die häusliche Arbeit es erlaubte, las ich. Ich hörte und las auch manches, was mir nicht guttat. Durch das Spezialfach meines Schwagers kamen manche Bücher ins Haus, die nicht gerade für ein Mädchen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 90. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/105&oldid=- (Version vom 31.7.2018)