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Plötzlich riß der Nebel und in hellem Sonnenlicht lag die Rheede von Cuxhaven mit ihren vielen Dampfern, Masten und Segeln vor uns. Dann kam die weite Fläche des Meeres, durchsichtig-klar und grün. Und schließlich stiegen aus den grünen Wellen steil die roten Felsen der kleinen Insel auf. Da war die berühmte „Lästerbrücke“, der Landungssteg, von dem aus die gelangweilten Badegäste die anlegende Schiffe und die Neuankömmlinge musterten. Schnell hatten wir das Unterland mit seinen großen Hotels durchquert; das Oberland mit seinen kleinen Fischerhäuschen und dem großen, weißen Leuchtturm gefiel mir besser. Dort oben nahmen wir in einer Pension Zimmer für die Nacht. Abends gingen wir noch einmal zu dem einsamen Leuchtturm hinaus. Nicht weit davon war ein Schaf an einen Pfahl gebunden. Es blöckte jämmerlich, als wir in seine Nähe kamen, und aus seinen hellgrünen, wasserklaren Augen sprach ein solcher Abgrund der Todesangst und Verständnislosigkeit, daß ich es nie vergessen konnte. Von dem Zimmer, in dem ich schlief, konnte man das Meer sehen. Und nachts drang das Rauschen der Wellen bis zu mir herauf. Das alles freute mich so, daß ich kaum schlafen konnte.

In den Sommerferien kam Erna und zu Weihnachten meine Mutter selbst, zwischendurch noch manche durchreisende Verwandte.

Es ist mir, als sei ich im Verhältnis zu früher und später geistig etwas dumpfer gewesen. Aber körperlich entwickelte ich mich rasch und kräftig; das schmächtige Kind entfaltete sich zu fast frauenhafter Fülle; da außerdem die blonden Haare stark nachdunkelten, erkannte man mich in Breslau nach der Rückkehr kaum wieder. Ich wurde mit meiner Cousine Martha Courant verwechselt, an die ich schon früher immer erinnert hatte.

Wie ich schon früher erwähnte, war die schwere Erkrankung unseres kleinen Neffen Harald der Anlaß, aus dem ich heimgerufen wurde. Es war Anfang März, an einem bitterkalten Abend, als ich ankam. Nur mein Bruder Arno und der treue Vetter Franz erwarteten mich an der Bahn. Meine Mutter ließ es sich sonst selten nehmen, uns selbst abzuholen. Diesmal ließen sie und die Schwestern sich durch die Witterung zurückhalten, sie waren wohl alle durch die Aufregungen der letzten Tage und die häufigen Krankenbesuche etwas angegriffen. Trotz der Trauerstimmung wurde ich mit großer Freude begrüßt. Meine Schwester Frieda erklärte lächelnd: „Wir haben gesagt: wenn sie jetzt nicht kommt, dann ist sie nicht unsere Schwester“. Das berührte mich peinlich zum Empfang, und ich zog mich gleich etwas in mich selbst zurück.

Das kranke Kind starb wenige Tage später. Ich hatte nun eigentlich keine richtige Beschäftigung. Ich half ein wenig im Haushalt

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 92. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/107&oldid=- (Version vom 31.7.2018)