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und übernahm ihn einmal für acht Tage ganz, während Rosa eine Gebirgswanderung machte. Sonst hatte ich viel freie Zeit. Ich benützte sie hauptsächlich, um zu lesen – am liebsten Dramen: Grillparzer, Hebbel, Ibsen, und vor allem Shakespeare waren mein tägliches Brot. In dieser farbenprächtigen Welt der großen Leidenschaften und Taten war ich viel heimischer als im Alltagsleben. Als ich mir aber eines Tages Schopenhauers „Die Welt als Wille und Vorstellung“ herbeiholte, protestierten die älteren Schwestern energisch. Sie fürchteten für meine geistige Gesundheit, und ich mußte die beiden Bände ungelesen wieder in die Bibliothek zurücktragen.

Die Zwillinge Hans und Franz kamen wieder fast täglich zu uns, seit ich zurück war; in meiner Abwesenheit hatten sie sich seltener bei uns blicken lassen und sich mehr mit unsern Cousinen Heidel und Grete Pick angefreundet, den älteren Schwestern meiner Klassengefährtin Leni. Sie kamen jetzt gewöhnlich nach dem Abendessen, da sie tagsüber beschäftigt waren, der eine als Jurist, der andere als Bankbeamter. Es wurde wieder viel musiziert, und etwas Sport getrieben: Tennis gespielt und gerudert. Ich war nun kein ganz harmloses Kind mehr. Wenn ich meine Wünsche nicht zu äußern brauchte, sondern mit einem Blick erreichen konnte, was ich wollte, so freute es mich.

Erna war jetzt Unterprimanerin und hatte viel zu arbeiten. Jedesmal, wenn es einen Aufsatz zu machen galt, kam sie stöhnend nach Hause. Dann ließ ich mir das Thema sagen, erkundigte mich nach den Anweisungen des Lehrers und besprach mit ihr, wie die Sache anzufangen sei. Zu jedem Sprichwort oder Zitat fielen mir gleich einige erläuternde Beispiele aus meinen geliebten Büchern ein. Dann machte ich ihr Mut, anzufangen; und wenn das Schmerzenskind geboren war, bekam ich es zur Begutachtung. Manchmal war alles geglückt, nur die Einleitung fehlte noch. Dann schrieb ich die Einleitung dazu. Einmal gefiel mir der ganze Aufsatz nicht recht; ich setzte mich schnell hin und schrieb einen andern. Den fand nun Erna viel schöner als den ihren; sie gab nach einigem Zögern meinen ab. Er gefiel auch dem strengen Professor Olbrich. Übrigens hatte meine Schwester diese Hilfe gar nicht nötig, sie konnte selbst gute Aufsätze machen; aber sie liebte die Anstrengung nicht und hatte keine Freude am Schreiben wie ich. Einmal hatte sie Goethes Gedicht „Auf Micdycis Tod“ zu behandeln. Ich schrieb die Einleitung über die „humoristische“ Schilderung der Weimarer Theaterverhältnisse in der Eingangsstrophe. „Humoristisch?“ Erna guckte mich etwas zweifelnd an. In der Schule war nichts davon erwähnt worden und es kam ihr wohl etwas merkwürdig vor, daß ein Trauergedicht einen humoristischen Anfang haben sollte. Ich ließ mich nicht beirren.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 93. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/108&oldid=- (Version vom 31.7.2018)