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„Lies doch nur! Es ist ganz klar“. Sie beruhigte sich und ließ die Einleitung stehen. Der Professor hatte nichts dagegen einzuwenden.

Damals kam mir manchmal der Gedanke: Es wäre eigentlich gescheiter, selbst aufs Gymnasium zu gehen, als nur so gelegentlich ein bißchen mitzuarbeiten. Aber ich faßte es nicht ernstlich ins Auge; er war mir, als hätte ich vor einigen Jahren für immer den Anschluß verpaßt. Die ganze enge und weitere Familie wartete damals mit Spannung, was ich über meine Zukunft beschließen würde. Die Geschwister machten mir sogar mancherlei Vorschläge. Weil ich als Kind gern und viel gezeichnet hatte, fragten sie, ob ich nicht auf die Kunstschule gehen wollte. Ich lehnte es ab, denn es war mir ganz klar, daß kein ausreichendes Talent vorhanden war. Einmal nahm mich mein Bruder Arno zu einem ihm bekannten Photographen mit und erkundigte sich nach den Bedingungen für die Ausbildung in seinem Atelier. Ich hörte mir alles an und ließ dann die Sache auf sich beruhen. Ich konnte nicht handeln, solange kein innerer Antrieb vorhanden war. Die Entschlüsse stiegen aus einer mir selbst unbekannten Tiefe empor. Wenn so etwas einmal ins helle Licht des Bewußtseins getreten war und feste gedankliche Form angenommen hatte, dann ließ ich mich durch nichts mehr aufhalten; ja ich hatte eine Art sportliches Vergnügen daran, scheinbar Unmögliches durchzusetzen.

Meine Mutter hatte die ganze Zeit geschwiegen; das schützte mich auch vor lästigem Drängen der andern. Gegen Ende des Sommers fragte sie einmal morgens, während sie mich frisierte – sie tat das noch gern, obgleich ich es längst selbst konnte –, ob ich denn zu gar nichts Lust hätte. Ich sagte, es täte mir leid, daß ich nicht aufs Gymnasium gegangen sei. Das brauchte mir doch nicht leid zu tun, meinte sie. Es fingen ja andere Leute mit 30 Jahren noch an; dann würde es wohl für mich mit noch nicht 16 nicht zu spät sein.

Ein paar Tage darauf suchte sie mein Vetter Richard im Geschäft auf. Er hatte den Sommer in Zürich studiert und meldete sich als zurückgekehrt. Meine Mutter fragte ihn sofort meinetwegen um Rat. Er erklärte es für möglich, bis zum nächsten Juli – es war jetzt September – die Aufnahme nach der Obersekunda zu erreichen. Die Mathematikstunden wollte er selbst übernehmen. Für Latein brachte er uns einen Altphilologen, der vor dem Abschluß seines Studiums stand und als tüchtiger Privatlehrer bekannt war. Herr Dr. Marek kam zu einer Besprechung: ein schlanker junger Mann mit einem Zwicker und sehr korrekten Manieren. Meine Mutter fragte ihn, ob er es übernehmen könne, mich bis zum nächsten Sommer für die Obersekunda vorzubereiten. Er erklärte, das könne er heute noch nicht versprechen, denn es hinge ja nicht von ihm

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 94. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/109&oldid=- (Version vom 31.7.2018)