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daß sich damit unsere Wege trennten. Ich erwähnte früher, daß die Zwillinge kurz nach meinem Eintritt ins Gymnasium ihre täglichen Besuche bei uns einstellten und daß wir uns nur noch selten sahen. Beide blieben unverheiratet. Wir haben niemals darüber gesprochen, warum sich unsere Freundschaft löste. Aus dem Felde schrieb Hans mir einmal, es sei doch schade, daß wir uns nach den schönen gemeinsamen Kinderjahren so fremd geworden seien.

Nachdem einige Zeit der Vorbereitung verstrichen war, suchte meine Mutter mit mir den strengen Direktor Roehl auf. Ich mußte ja zur Aufnahmeprüfung angemeldet werden und einige Ratschläge für die Vorbereitung erbitten. Es war, als wollte er sein Möglichstes tun, um mich zu entmutigen. Er stellte das Ziel als äußerst schwer erreichbar vor, schärfte mir ein, daß ich nicht nur für Latein und Mathematik, sondern auch für alle andern Fächer sehr gut vorbereitet sein müsse. Er riet auch, nach den eingeführten Lehrbüchern zu arbeiten.

Ich begann nun auch Französisch, Englisch und Geschichte zu wiederholen. Dafür bekam ich bald eine Gefährtin. Eine Klassengefährtin erzählte Erna, daß bei ihren Eltern ein junges Mädchen aus Oberschlesien in Pension sei und sich auch für die Obersekunda vorbereitete; sie würde gern etwas mit mir zusammen arbeiten. So kam nun Trude Mervins öfters zu mir. Sie war ein reizendes Persönchen, sehr nett anzusehen, munter und liebenswürdig. Aber ihre Kenntnisse waren so minimal, daß ich wenig Hoffnung für sie hatte. Ich war auch für mich besorgt, als die Prüfung näherkam. Ich hatte noch nie eine Prüfung machen müssen und stellte mir vor, daß man alles wissen müsse, was im Lehrstoff der drei unteren Klassen enthalten war. Daß ein Examinator froh ist, wenn er nur etwas aus seinem Opfer herauslocken kann, erfuhr ich erst, als ich selbst zu prüfen hatte. Wenn meine Geschwister so sprachen, als könnte ich unmöglich durchfallen, so wurde ich ganz aufgebracht. Frieda berichtete mir einmal: „Dein Bruder hat eine sehr gute Meinung von Dir. Er hat gesagt, die Lehrer müßten nicht recht gescheit sein, wenn sie Dich durchfallen ließen. Es könnte doch niemand mehr wissen“. Ich fuhr ganz empört auf: „Er hat keine Ahnung, was dazu gehört“. Ein andermal fragte sie, was ich denn zu tun gedächte, wenn ich wirklich durchfiele. Sie glaubte durchaus nicht daran. Aber gesetzt den Fall... Frieda führte bei uns die Kasse. Die stattliche Anzahl von Goldstücken, die ich ihr für meine Stunden schon entführt hatte, war gegen ihren haushälterischen Sinn, und sie war keineswegs dafür, diesen kostspieligen Privatunterricht noch länger fortzusetzen. Am liebsten hätte sie mich schon aufhören lassen, als Richard Courant fortging. (Der Vetter hatte umsonst unterrichtet).

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 98. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/113&oldid=- (Version vom 31.7.2018)