Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/115

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

4.

So begann nun das Schulleben von neuem. Als ich am Tage der Prüfung zum Schulbeginn eintrat, begegnete ich dem alten Direktor im Treppenhaus. Er begrüßte mich so freundlich wie vor 10 Jahren, als ich zum ersten Mal hier eingezogen war; ich fragte ihn, wo der Klassenraum der Obersekunda sei, und er zeigte mir selbst den Weg.

Ich war, wenn ich mich recht erinnere, die Erste im Zimmer. Allmählich fanden sich die andern ein. Ein großes Mädchen mit rötlichen Haaren kam herein, warf einen Ranzen auf einen Tisch und sagte seufzend: „Das Leben ist mühsam und zeitraubend“. Da hatte ich gleich den richtigen Schülerjargon. Einige meiner neuen Mitschülerinnen kannte ich, weil sie auch früher die Viktoriaschule besucht hatten. So meine Banknachbarin Julia Heimann. Sie galt als das reichste Mädchen der Stadt und wurde wohl von den Eltern aufs Gymnasium geschickt, weil dies die beste Ausbildungsmöglichkeit war. Auch sonst wurde viel für ihre Bildung getan; sie hatte eine „Miss“, die sie immer mit einem schönen schwarzen Hund von der Schule abholte; außerdem bekam sie auch Privatunterricht in französischer und italienischer Konversation. Sie war nicht sehr begabt, arbeitete aber fleißig und hielt sich dadurch immer unter den Besseren in der Klasse. Von Natur aus war sie zu mancherlei Streichen aufgelegt und wäre wohl ohne die sorgfältige Erziehung kein braves Kind gewesen. Ihre Kleidung war immer sehr gut und geschmackvoll, aber ganz einfach. Schmuck trug sie fast gar nicht, und sie erzählte uns einmal, ihre Eltern hätten allen Verwandten untersagt, ihr welchen zu schenken. Die Großmutter mußte wohl eine Ausnahme machen, denn ich erinnere mich an eine Halskette aus Gold und Türkisen, die sie Julia aus Ägypten mitgebracht hatte. Besonders Eindruck machte mir, daß sie nachts ihren Wecker unter dem Kopfkissen hatte, um die Miss nicht zu stören, die im selben Zimmer schlief.

Außer Julia und mir waren noch sieben jüdische Schülerinnen in der Klasse, aber keine war streng-gläubig erzogen. Von der Obersekunda an hatten wir auch in der Schule keinen Religionsunterricht mehr, weil Religion für uns auch nicht Prüfungsfach war. (Das wurde später geändert.) Ich habe allerdings auch bei den andern Mädchen kaum etwas von tieferer Frömmigkeit bemerkt. Den protestantischen Religionsunterricht gab in den Oberklassen ein Herr, der sichtlich darauf Wert legte, von seinen Schülerinnen angeschwärmt zu werden und für manche wohl eine wirkliche Gefahr bedeutete.

Nur eine einzige Klassengefährtin war katholisch, und diese eine

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 100. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/115&oldid=- (Version vom 21.3.2019)