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sich jemand findet, der mich mag!“ Das gefiel mir viel besser als meine eigene damals stark frauenrechtlerische Haltung. Toni Hamburger verkehrte mit den reichsten Mädchen, stammte aber selbst aus bescheidenen Verhältnissen. Durch ältere Geschwister war sie stark geistig angeregt und fühlte sich durch diese Interessen wohl auch zu mir hingezogen. Sie lud mich zu sich ein, und ich habe manchmal ein paar Stunden bei ihr verbracht. Die Familie war kunstliebend, und ich bekam dort – ebenso auch bei Koppels – manches zu sehen, was bei uns zu Hause fehlte; der Zug zur bildenden Kunst war in unserer Familie im Vergleich zur Literatur und Musik wenig ausgebildet.

Toni war eifrig bestrebt, in der Schule etwas Ordentliches zu leisten; die mathematischen Fächer lagen ihr gut, die Sprachen aber machten ihr große Schwierigkeiten, zeitweise so sehr, daß sie daran dachte, vor dem Abitur abzugehen. Damals wurde auch ich ins Vertrauen gezogen und um Rat gefragt, während sonst außer den beiden nächsten Freundinnen niemand in der Klasse etwas wissen durfte. Wir bemühten uns, ihr über die Krisis hinwegzuhelfen; sie bestand die Prüfung auch glatt und wurde eine sehr tüchtige Chemikerin.

Abgesehen von Professor Scholz, der uns in Obersekunda Deutsch und Geschichte gab, hatten wir sehr tüchtige Lehrer. Der Mathematiker Professor Sumpf, in Unterprima unser Klassenlehrer, war ein Original und hatte einen etwas merkwürdigen Verkehrston: Wenn jemand an der Tafel einen Beweis oder eine Aufgabe lösen sollte und dabei in Verwirrung geriet, sagte er: „Sie sind wohl heute mit dem Dummbeutel geklopft?“ oder „Haben Sie heute wollene Strümpfe an?“ Er nannte uns auch nicht, wie es für die beiden Primen vorgeschrieben war, „Fräulein X.“, sondern nur mit dem Nachnahmen, oder – wenn er besonders gnädig gestimmt war – rief er uns alle „Lotte“. Da dies alles mit einem trockenen, gutmütigen Humor herauskam, nahmen wir es auch mit Humor auf; außerdem schätzten wir seinen ausgezeichneten Unterricht. Als wir in der Literatur erklärt bekamen, was ein Akrostichon sei, machte ich gleich eins auf ihn:

Seht den kleinen Mann,
Unsern Liebling an:
Mit vergnügtem Sinn
Pilgert er dahin,
Fest die Mütze über beiden Ohren“.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/119&oldid=- (Version vom 31.7.2018)