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Ich hatte immer „Gut“ in Mathematik, aber ich wußte jetzt noch besser als früher, daß ich nicht die spezifische mathematische Begabung besaß, wie einige meiner Mitschülerinnen sie hatten. Es schien mir auch, daß meine Leistungen in den andern Fächern das Urteil des Professors etwas beeinflußten. Nur einmal hat er mir, sicher ohne es zu wollen, sehr weh getan. Es war auf der Rückfahrt von einem Ausflug beim Pfänderspiel, Ich wurde ins Nebenabteil geschickt, und die andern besprachen sich über mich; jedes mußte eine gute oder schlechte Eigenschaft sagen; eine trug mir dann die gesammelten Urteile vor; ich mußte gestehen, was mich am meisten gefreut und was mich am meisten geärgert habe und raten, von wem die betreffende Aussage stamme. Ich fand nur einen Vorwurf kränkend: jemand hatte gesagt, ich sei schadenfroh, und dieser Jemand war unser Klassenlehrer. Ich konnte mir kaum etwas Häßlicheres denken, und daß mir so etwas zugetraut wurde, das ging mir so zu Herzen, daß mir die Tränen kamen. Man war nicht gewöhnt, mich weinen zu sehen. Die Mitschülerinnen gaben sich alle Mühe, um mich zu beruhigen. Sie versicherten mir, es sei wohl nicht so ernst gemeint gewesen; ich könnte vielleicht den Eindruck erweckt haben, weil ich oft über dumme Antworten im Unterricht lachte; die Lehrer wüßten ja nicht viel von uns und können uns nicht beurteilen. Hedi Kopf hatte anfangs zu der Äußerung des Professors zustimmend genickt; das war mir noch besonders schmerzlich. Als sie dann sah, wie ich mir den Vorwurf zu Herzen nahm, guckte sie ganz scheu von der Seite nach mir hin. Der gute Ordinarius sagte gar nichts. Er hatte die ganze Sache wohl als einen harmlosen Scherz aufgefaßt und war verblüfft über die Wirkung.

Unser Neuphilologe, Professor Leugert, hatte sich mit unermüdlichem Fleiß ein gründliches Wissen erworben. Er hatte eine unverhohlene Bewunderung für Menschen, denen es sehr viel leichter wurde als ihm. Man konnte bei ihm etwas lernen, und ich bin ihm mein ganzes Leben hindurch dankbar gewesen für die Sprachkenntnisse, die ich aus seinem Unterricht mitnahm. Aber die Stunden waren sehr langweilig. Die meisten Schülerinnen dösten oder beschäftigten sich mit andern Dingen. Ich hatte zwei Methoden, mich wach zu halten. Die eine bestand darin, daß ich sehr lebhaft am Unterricht teilnahm. Wenn ich den Lehrer scharf ansah, so hatte dies meist die suggestive Wirkung, daß er mich zum Lesen oder Übersetzen drannahm. Aber das ging nicht oft in einer Stunde zu wiederholen, weil ja auch die andern drankommen mußten. Wenn etwas erzählt wurde, was mich interessierte, so streute ich Fragen und ergänzende Bemerkungen ein. Der Professor wandte sich auch manchmal mit Fragen an mich, so daß der Unterricht zum Dialog

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 105. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/120&oldid=- (Version vom 31.7.2018)