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an jedem 2. September. Wenn das Wetter schön war, fuhr die ganze Schule mit Ausnahme der Kleinsten auf einem großen Dampfer die Oder aufwärts nach Schaffgotschgarten. Dort wurde im Freien eine zündende patriotische Rede gehalten (dazu wurden die Lehrer abwechselnd verurteilt), wir sangen vaterländische Lieder, und einige mußten Gedichte deklamieren. Dazu wurde ich zu meiner Freude niemals ausgewählt, denn jegliches Pathos lag mir fern; es war für mich schon peinlich, Deklamationen anzuhören. Die Tatsache, daß man den Sieg über die Franzosen immer noch feierte, war mir an sich schon sehr unsympathisch. Ich war keine Pazifistin, aber ein solches Verhalten einem überwundenen Gegner gegenüber erschien mir unritterlich. Als ich in meinem vorletzten Schuljahr wieder einmal dieser Feier in der Aula beiwohnte, wurde wie gewöhnlich das Gedicht vorgetragen: „Nun lasset die Glocken von Turm zu Turm...“ Bei der Stelle: „Er warf den Drachen vom goldenen Stuhl mit Donnerkrachen hinab zum Pfuhl“ kam mir der Gedanke: „Das soll doch hier offenbar auf Napoleon III. bezogen werden. Was für ein Blödsinn!“ Und es packte mich plötzlich ein solcher Abscheu von diesem ganzen Treiben, daß ich mir feierlich gelobte, so etwas nicht mehr mitzumachen. Als im nächsten Jahr der 2. September wieder herankam, war ich in einiger Verlegenheit. Man durfte einer Schulfeier ebenso wenig wie dem Unterricht ohne Entschuldigung fernbleiben. Den wahren Grund anzugeben – das war offenbar so unmöglich, daß mir der Gedanke gar nicht kam. Einen falschen vorschieben wollte ich nicht, und dazu hätte sich auch meine Mutter nicht überreden lassen. Es kam mir eine rettende Idee. Meine Schwester hatte einmal mit ihrer Klasse einen zweitägigen Ausflug gemacht. Das war damals etwas ganz Ungewöhnliches, und ich hatte immer schon vor, für uns auch so etwas zu erreichen. Jetzt stellte ich meinen Klassengefährtinnen vor, daß nun für uns die letzte Gelegenheit vor dem Abitur sei, Wenn der Direktor uns den Sedantag und den darauffolgenden freigäbe, dann könnten wir bis auf die Schneekoppe gelangen. Natürlich waren alle gleich Feuer und Flamme. Die Lehrer wiesen uns an den Direktor und hatten wenig Hoffnung, daß wir Gehör fänden. Ich ging mit noch einigen andern Beherzten zu ihm ins Amtszimmer und trug ihm mit eindringlichen Worten unser Anliegen vor. Er sagte schließlich, wenn sich jemand aus dem Lehrerkollegium bereit fände, mit uns zu gehen, und wenn unterwegs des Sedantages gedacht würde, dann wolle er seine Einwilligung geben. Eine Begleiterin hatten wir schon in Bereitschaft; unsere freundliche, noch junge Turnlehrerin ließ sich leicht von uns überreden. Die Sedanrede freilich übernahm sie nicht; dafür mußte ich Sorge tragen. Ich

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/122&oldid=- (Version vom 31.7.2018)