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den Heften. Schleunigst wurden sie verteilt und mit Herzklopfen geöffnet. Fand ich eine große I, so hüpfte ich vor Freude. Eine Mitschülerin sagte mir einmal dabei: „Ich freue mich, daß Du Dich noch so freuen kannst. Ich denke immer, Du müßtest es längst gewöhnt sein“. Dieser Zustand aber trat niemals ein. Ich hatte selbst kein Urteil über das, was ich schrieb, und die Note war wie ein Orakelspruch.

Die guten Noten wurden übrigens bei uns eine kostspielige Sache: in den letzten beiden Jahren wurden sie mit Steuern belegt, um Geld für unser Abschiedsfest zu sammeln. Die schlechten Arbeiten waren abgabenfrei; für eine Drei waren 5 Pf. zu entrichten, für eine Zwei 10 Pf., für eine Eins 20 Pf. Eine Eins im Aufsatz aber kostete 50 Pf. Wenn ich zu Hause von meinen Arbeiten erzählte, ersetzte mir meine Mutter mit Freuden die Ausgaben. Trotzdem tat ich es selten, oft erfuhr die Familie erst auf Umwegen meine Schulerfolge. Das kränkte meine Mutter sehr. Natürlich gönnte ich ihr die Freude. Aber die Scheu davor, der Stolz der Familie zu sein, war noch größer.

Meine Gymnasialjahre waren eine glückliche Zeit. In Obersekunda kostete das Eingewöhnen noch einige Anstrengung; die beiden Primen aber waren wie ein Spiel. Wenn wir nicht gerade einen Aufsatz zu machen hatten, war ich um 4 Uhr fast immer mit meinen Arbeiten fertig und hatte den Rest des Nachmittags frei für meine Lieblingsbeschäftigungen. Was ich damals an schöner Literatur las, war ein Vorrat fürs ganze Leben. Es wurde mir später sehr nützlich, als ich selbst Literatur-Unterricht zu geben hatte. Noch größere Freude als das Lesen machte mir der Besuch des Theaters. Wenn in jenen Jahren die Aufführung eines klassischen Dramas angekündigt wurde, so war mir das immer wie eine persönliche Einladung. Ein bevorstehender Theaterabend war mir ein leuchtender Stern, der allmählich näher kam. Ich zählte die Tage und Stunden, die mich noch davon trennten. Es war schon beglückend, im Theaterraum zu sitzen und zu warten, bis der schwere eiserne Vorhang langsam in die Höhe ging – das Klingelzeichen ertönte –, endlich die neue, fremde Welt sich öffnete. Dann lebte ich ganz in dem Geschehen auf der Bühne, und der Alltag versank. Nicht weniger als die großen Tragödien liebte ich die klassischen Opern. Die erste, die ich hörte, war die „Zauberflöte“. Wir kauften uns den Klavierauszug und konnten sie bald auswendig. Ebenso den „Fidelio“, der mir immer das Höchste blieb. Ich hörte auch Wagner und konnte mich während einer Aufführung dem Zauber nicht ganz entziehen. Aber ich lehnte diese Musik ab. Nur mit den „Meistersingern“ machte ich eine Ausnahme. Eine besondere Liebe hatte ich für Bach. Diese Welt der Reinheit und strengen Gesetzmäßigkeit zog mich im Innersten

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 109. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/124&oldid=- (Version vom 31.7.2018)