Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/134

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

möglichst weit entfernt von der Heimat und den alten Beziehungen. Aber weder dort noch in einer späteren Stellung konnte er lange bleiben, weil er immer bald tief in Schulden steckte und in allerhand böse Händel verwickelt war. Sein Vater schickte ihn nach Amerika – aber nach kürzester Zeit tauchte er wieder auf. Zu Beginn des Krieges kam er sofort ins Feld; er war ein tollkühner Soldat und kam sehr bald mit dem Eisernen Kreuz und einer schweren Kieferverletzung wieder zurück. Dann fing das alte Leben wieder an. Mein Onkel wußte sich schließlich nicht mehr anders zu helfen, als daß er alle Beziehungen zu ihm abbrach und ihn nicht mehr ins Elternhaus kommen ließ. Ich habe es selbst miterlebt, daß er in Berlin telephonisch anfragte, wie es den Eltern ginge und ob er nicht kommen dürfte, und daß er kurz abgewiesen wurde. Er heiratete schließlich ein christliches Mädchen aus kleinbürgerlichen Verhältnissen. Er lebte mit in der engen Proletarierwohnung des Schwiegervaters, eines braven Tischlermeisters. Seine Eltern waren wenig erbaut von der „Mißheirat“ und kümmerten sich auch jetzt nicht um ihn und seine Familie. Die Ehe aber war gut und die junge Frau war untröstlich, als er nach kurzer Krankheit starb. Sie blieb mit zwei kleinen Kindern zurück. Zur Beerdigung kamen die Eltern, mein Onkel führte seine Schwiegertochter an seinem Arm zum Grabe. Als der Rabbiner die letzten Gebete gesprochen hatte und das ganze Trauergefolge sich zum Gehen wenden wollte, kniete die junge Frau am Grabe nieder und betete in ihrem Schmerz laut das Vaterunser. Das war natürlich etwas ganz Unerhörtes auf dem jüdischen Friedhof, aber niemand nahm daran Anstoß; es waren alle gerührt.

Während ich in Chemnitz war, unterhandelte mein Onkel über den Verkauf seiner Apotheke. Er war damals leidend und konnte die Luft der Fabrikstadt augenscheinlich nicht mehr vertragen. Außerdem spielte wohl der Einfluß seiner Frau mit, die gern nach Berlin übersiedeln wollte. Es war ein Bewerber da, der die vorzüglich gelegene Apotheke dicht am Markt und das große Haus sehr gern haben wollte; aber die hohe Kaufsumme schreckte ihn immer wieder ab. Mein Onkel blieb ganz ruhig. „Das Zögern kommt dem Mann teuer zu stehen“, sagte er. „Jedesmal, wenn er aufs neue anfragt, kostet es 10000 Mark mehr“. Und dabei blieb er fest. Der Kollege mußte, als er sich endlich entschloß, 30000 Mark über den ursprünglichen Preis hinaus zahlen. Mein Onkel meldete den glücklichen Abschluß telephonisch nach Breslau. Dabei erkundigte ich mich, ob schon bald Vorlesungen anfingen, die für mich in Betracht kämen. Ich hatte Erna beauftragt, am „schwarzen Brett“ nachzulesen. Ich erfuhr, daß schon für den nächsten Tag – den 27. April – einige

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 119. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/134&oldid=- (Version vom 31.7.2018)