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V
Von den Studienjahren in Breslau


1.

Am nächsten Tage stand ich vor dem berühmten „schwarzen Brett“. Es waren eine ganze Reihe von Wandtafeln in einem schmalen Gang unserer lieben alten Breslauer Universität. Sie waren bedeckt mit kleinen weißen Zetteln, auf denen die Dozenten Thema, Zeit, Ort und Beginn ihrer Vorlesungen ankündigten. Man mußte das alles genau studieren, denn es kamen manche Abweichungen von dem gedruckten Vorlesungsverzeichnis vor. Hier stellte ich mir meinen Stundenplan zusammen. Es war gut, daß manche von den Kollegs, die ich in Betracht zog, zeitlich zusammenfielen, so daß ich eine Auswahl treffen mußte. Sonst wäre ich wohl auf 40-50 Wochenstunden gekommen. Es blieben auch so immer noch genug: Indogermanisch, Urgermanisch und neu-deutsche Grammatik, Geschichte des deutschen Dramas, Preußische Geschichte im Zeitalter Friedrichs des Großen und Englische Verfassungsgeschichte, ein griechischer Anfängerkursus (ich war immer sehr unzufrieden, daß wir kein humanistisches Mädchengymnasium hatten, und wollte jetzt etwas von dem Versäumten nachholen; außerdem wurden für das Geschichtsstudium auch einige Kenntnisse im Griechischen durch die Prüfungsbestimmungen verlangt); dazu kam das, worauf ich am meisten gespannt war: eine vierstündige Einführung in die Psychologie bei William Stern und ein einstündiges Kolleg über Naturphilosophie bei Richard Hönigswald. Beide nahmen mich auch schon im ersten Semester in ihr Seminar auf. Das Psychologie-Kolleg war das erste, was ich überhaupt hörte. Das mochte ein Vorzeichen sein, denn ich habe mich in den vier Semestern, die ich in Breslau studierte, wohl am meisten mit Psychologie beschäftigt. Sterns Vorlesung war sehr einfach und leichtverständlich gehalten, Ich saß darin wie in einer angenehmen Unterhaltungsstunde und war etwas enttäuscht. Um so mehr mußte man sich bei Hönigswald anstrengen. Sein bohrender Scharfsinn und seine strenge Gedankenführung entzückten mich. Er war ausgesprochener Kritizist und gehört ja heute zu den wenigen, die dieser Richtung noch treu geblieben sind; man mußte sich den Begriffsapparat des Kantianismus zu eigen machen, um ihm folgen zu können. Es hatte für die jungen Leute in seinem Seminar etwas Verführerisches, sich mit diesen scharfgeschliffenen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 121. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/136&oldid=- (Version vom 31.7.2018)