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Waffen in dialektischen Kämpfen zu üben. Wer etwas herbeitragen wollte, was nicht auf diesem Boden gewachsen war, wurde von Hönigswald mit seiner überlegenen Dialektik und beißenden Ironie mundtot gemacht, aber schwerlich innerlich überwunden. Ein älterer, sehr selbständiger Student sagte mir einmal: „Es gibt Dinge, die man in Hönigswalds Seminar nicht zu denken wagt. Aber außerhalb kann ich mich ihnen doch nicht verschließen“. Immerhin war es eine ausgezeichnete Schulung im logischen Denken, und das genügte damals für mich, um mich glücklich zu machen. Außerdem waren seine philosophiegeschichtlichen Vorlesungen, die ich später hörte, ausgezeichnet in ihrer klaren und scharfen Herausarbeitung des Gedankensystems. Im Vergleich dazu lehnte ich seinen damals berühmten und vielumschwärmten Fachkollegen Eugen Kühnemann mit seinem pathetischen Schwung und seiner für alles bereitstehenden Begeisterung als „Schöngeist“ ab. Übrigens war man außerhalb Breslaus immer erstaunt zu hören, daß er das Ordinariat für Philosophie innehabe. Er war bekannt durch seine Werke über Schiller und Herder, und Uneingeweihte hielten ihn darum für einen Literaturhistoriker. Stern und Hönigswald stand in ihrer akademischen Laufbahn die jüdische Abstammung im Wege. Der Lehrstuhl für Psychologie war in Breslau Extraordinariat, und Hönigswald war noch Privatdozent und blieb es auch noch mehrere Jahre. Er erreichte es später, daß ihm die Psychologie übertragen wurde, als Stern einen Ruf nach Hamburg annahm. Die Berufung auf einen philosophischen Lehrstuhl (München) wurde ihm erst sehr spät zuteil. Er hat darunter augenscheinlich sehr gelitten.

Die „akademische Freiheit“, in die ich eintrat, war ein zweischneidiges Schwert. Es gab damals für uns keinen vorgeschriebenen Studiengang wie z.B. für die Mediziner, die für jedes Semester einen festgelegten Plan haben. Das einzige Bindende für uns waren die staatlichen Bestimmungen über die Prüfung für das höhere Lehramt. Daraus konnten wir ersehen, was am Ende von uns verlangt würde. Ich kaufte mir diese Bestimmungen schon im ersten Semester, angeregt durch eine Studiengefährtin, die von Anfang an sehr zielbewußt auf das Staatsexamen hinarbeitete. Das lag mir an sich fern. Das Staatsexamen wollte ich ja nur „für meine Familie“ machen, mir war es vorläufig nur um die Wissenschaft zu tun. Ich sah aber ein, daß es vernünftig sei, von vornherein bei der Aufstellung des Semesterplans das Notwendige mit zu berücksichtigen. Natürlich durften die Dinge, die mir am Herzen lagen, dadurch nicht zu kurz kommen. Eine für mich erfreuliche Tatsache entnahm ich den Prüfungsbestimmungen: daß „Philosophische Propädeutik“ Prüfungsfach sei. Natürlich beschloß ich sofort, dieses Fach zu wählen.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 122. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/137&oldid=- (Version vom 31.7.2018)