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Vorwort

Die letzten Monate haben die deutschen Juden aus der ruhigen Selbstverständlichkeit des Daseins herausgerissen. Sie sind gezwungen worden, über sich selbst, ihr Wesen und ihr Schicksal, nachzudenken. Aber auch vielen andern jenseits der Parteien Stehenden hat sich durch die Zeitereignisse die Judenfrage aufgedrängt. Sie ist z.B. in den Kreisen der katholischen Jugend mit großem Ernst und Verantwortungsbewußtsein aufgegriffen worden. Ich habe in diesen Monaten immer wieder an eine Unterredung denken müssen, die ich vor einigen Jahren mit einem Priester und Ordensmann hatte. Es wurde mir darin nahegelegt aufzuschreiben, was ich als Kind einer jüdischen Familie an jüdischem Menschentum kennengelernt habe, weil Außenstehende so wenig von diesen Tatsachen wüßten. Vielerlei andere Aufgaben hinderten mich damals, diesen Vorschlag ernstlich aufzugreifen. Als im letzten März mit der nationalen Revolution der Kampf gegen das Judentum in Deutschland einsetzte, fiel er mir wieder ein. „Wenn ich nur wüßte, wie Hitler zu seinem furchtbaren Judenhaß gekommen ist“, sagte eine meiner jüdischen Freundinnen in einem jener Gespräche, in denen man um Verständnis dessen, was da über einen hereinbrach, rang. Die programmatischen Schriften und Reden der neuen Machthaber gaben Antwort darauf.

Wie aus einem Hohlspiegel blickt uns daraus ein erschreckendes Zerrbild an. Mag sein, daß es in ehrlicher Überzeugung gezeichnet wurde. Mag sein, daß die einzelnen Züge lebenden Modellen nachgebildet wurden. Aber ist das jüdische Menschentum schlechthin die notwendige Auswirkung des „jüdischen Blutes“? Sind Großkapitalisten, schnoddrige Literatur und die unruhigen Köpfe, die in den revolutionären Bewegungen der letzten Jahrzehnte eine führende Rolle spielten, die einzigen oder auch nur die echtesten Vertreter des Judentums? In allen Schichten des deutschen Volkes werden sich Menschen finden, die diese Frage verneinen: sie sind als Angestellte, als Nachbarn, als Schul- und Studiengefährten in jüdische Familien hineingekommen; sie haben dort Herzensgüte, Verständnis, warme Teilnahme und Hilfsbereitschaft gefunden; und ihr Gerechtigkeitssinn empört sich dagegen, daß diese Menschen jetzt zu einem Pariadasein verurteilt werden. Aber vielen andern

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 3. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/14&oldid=- (Version vom 31.7.2018)