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Mehr und mehr machte ich mich auch von den liberalen Ideen frei, in denen ich aufgewachsen war, und kam zu einer positiven, der konservativen nahestehenden Staatsauffassung, wenn ich mich auch von der besonderen Prägung des preußischen Konservatismus immer freihielt. Zu den rein theoretischen Erwägungen kam als ein persönliches Motiv eine tiefe Dankbarkeit gegen den Staat, der mir das akademische Bürgerrecht und damit den freien Zugang zu den Geisteswissenschaften der Menschheit gewährte.

Alle die kleinen Vergünstigungen, die uns unsere Studentenkarte sicherte – die billigen Theater- und Konzertkarten u.dgl. sah ich als eine liebevolle Fürsorge an, die der Staat seinen bevorzugten Kindern angedeihen ließ, und sie erweckten in mir den Wunsch, später durch meine Berufsarbeit dem Volk und dem Staat meinen Dank abzustatten. Ich war empört über die Gleichgültigkeit, mit der die Mehrzahl der Kommilitonen den allgemeinen Fragen gegenüberstand: ein Teil ging in den ersten Semestern nur dem Vergnügen nach, andere waren ängstlich darauf bedacht, das nötige Examenswissen zusammenzubekommen und sich später eine Futterkrippe zu sichern. Aus diesem starken sozialen Verantwortlichkeitsgefühl heraus trat ich auch entschieden für das Frauenstimmrecht ein; das war damals innerhalb der bürgerlichen Frauenbewegung noch durchaus nicht selbstverständlich. Der preußische Verein für Frauenstimmrecht, dem ich mit meinen Freundinnen beitrat, weil er die volle politische Gleichberechtigung für die Frauen anstrebte, umfaßte überwiegend Sozialistinnen.


2.

Wenn auch die große Mehrzahl der Studenten ziemlich stumpf dahinlebte (ich nannte sie in zorniger Verachtung „die Idioten“ und hatte in den Hörsälen keinen Blick für sie), so stand ich doch mit meinen Idealen nicht allein und fand bald Gesinnungsgenossen. Von unserm engsten Freundeskreis – meiner Schwester Erna, Hans Biberstein, Rose Guttmann und Lilli Platau – ist ja schon ausführlich die Rede gewesen. Mit Rose traf ich in den philosophischen und psychologischen Vorlesungen zusammen, und durch sie wurde ich einem Kreis von jungen Menschen zugeführt, dem ich wohl das Wertvollste in meiner Breslauer Studentenzeit verdankte. Er nannte sich Pädagogische Gruppe und war hauptsächlich aus Schülern und Schülerinnen des Sternschen Seminars hervorgegangen. Diese künftigen Lehrer und Lehrerinnen empfanden es als unerträglichen Mangel, daß an der Universität eigentlich nichts zur Vorbereitung

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/141&oldid=- (Version vom 31.7.2018)