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hatte, uns beide und Rose Guttmann zu einem Abschiedsabend ein. Hermsen begleitete mich nach Hause. Nach den Gruppenabenden hatte er das immer andern überlassen, weil er weit entfernt von mir wohnte. Als wir vor unserm Hause angekommen waren, sagte er: „Nun wünsche ich Ihnen, daß Sie in Göttingen Menschen treffen möchten, die Ihnen recht zusagen. Denn hier sind Sie doch etwas gar zu kritisch geworden“. Über diese Worte war ich sehr betroffen. Ich war an gar keinen Tadel mehr gewöhnt. Zu Hause wagte mir kaum noch jemand etwas zu sagen; meine Freundinnen hingen mit Liebe und Bewunderung an mir. So lebte ich in der naiven Selbsttäuschung, daß alles an mir recht sei: wie es bei ungläubigen Menschen mit einem hochgespannten ethischen Idealismus häufig ist. Weil man für das Gute begeistert ist, glaubt man selbst gut zu sein. Ich hatte es auch immer als mein gutes Recht angesehen, auf alles Negative, was mir auffiel, auf Schwächen, Irrtümer, Fehler anderer Menschen, schonungslos den Finger zu legen, oft in spottendem und ironischem Ton. Es gab Leute, die mich „entzückend boshaft“ fanden. So mußten mich diese ernsten Abschiedsworte eines Mannes, den ich hochschätzte und liebte, sehr schmerzlich berühren. Ich war ihm nicht böse darum. Ich schüttelte sie auch nicht als ungerechten Vorwurf ab. Sie waren wie ein erster Weckruf, der mich nachdenklich machte.

Wir begegneten uns noch einmal, als wir beide zum Ferienaufenthalt in Breslau waren. Hermsen versprach mir, mich in Göttingen zu besuchen, wenn er von Neuwied in seine Heimat führe. In den ersten Augusttagen 1914, kurz nach Kriegsausbruch, bekam ich eine Karte von Göttingen nach Breslau nachgesandt, in der er seinen Besuch ankündigte. Ob es für ihn noch zu dieser Reise gekommen ist oder ob auch seine Pläne durch die Kriegsereignisse durchkreuzt wurden, weiß ich nicht. Ich erhielt keine persönliche Nachricht mehr von ihm, nur später durch Rose die Mitteilung, daß er als „vermißt“ gemeldet sei und einen Bericht über seine letzten Tage im Karpathenwinter, bis sich seine Spur verlor. Als ich im Herbst 1916 nach Freiburg i.Br. kam, sah ich im Schaufenster eines Photographen in der Kaiserstraße Hermsens Bild; er trug die kleidsame Uniform des deutschen Alpenjägerregiments, das im Schwarzwald für den Hochgebirgskampf geübt wurde. Die Platte war noch vorhanden, und ich konnte die alten Freunde des Toten mit Abzügen erfreuen.

Nach Hermsen war das einflußreichste Gruppenmitglied Hermann Popp. Er war schon über 30 Jahre alt, hatte mehrere Jahre als Lehrer in der Volksschule gestanden, ehe er das Abitur machte und auf die Universität kam. Er war lang und mager; seine äußere Erscheinung

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 130. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/145&oldid=- (Version vom 31.7.2018)