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erinnerte etwas an Don Quijote, den Ritter von der traurigen Gestalt. Man konnte in jeder Diskussion sicher sein, daß er das Wort ergreifen würde und daß dann nicht so bald jemand anders an die Reihe käme. Er hatte schon seine festen Grundsätze, wonach er zu jeder Frage mit Sicherheit Stellung nahm. Er trug seine Meinung mit viel Temperament und Nachdruck, mit schallender Stimme und oft in komisch übertreibender Weise vor. Es war nicht leicht, ernst dabei zu bleiben, auch wenn es ihm selbst ganz ernst war. Wir schätzten ihn aber alle hoch als einen charakterfesten und aufrechten Menschen, einen selbständigen und scharfsinnigen Denker. Er machte seine Doktorarbeit bei Stern (über das Assoziationsproblem), hatte sich aber von der Leitung dieses „Meisters“ ganz frei gemacht. Überhaupt war unser Verhältnis zu unserem Lehrer ein sehr selbständiges. Stern vertrat einen bestimmten Typus jüdischen Menschentums. Er war damals anfangs der 40er, gut mittelgroß, wirkte aber kleiner, weil er etwas gebückt ging. Das blasse Gesicht war von einem braunen Bart umrahmt, die Augen blickten klug und gütig, der Gesichtsausdruck und der Klang der Stimme waren überaus milde und freundlich. Als er einmal bei einem Maskenfest in orientalischem Kostüm erschien, sah er aus wie Nathan der Weise. Er hat immer versichert, daß er im tiefsten Herzen Philosoph sei (darum eiferte er auch gegen die Trennung der philosophischen und psychologischen Lehrstühle) und daß sein großes philosophisches Werk „Person und Sache“ ihm wichtiger sei als alle andern. Trotzdem war er mehr und mehr in die experimentelle Psychologie hineingeraten und verdankte seinen Ruhm den psychologischen Schriften, die in alle Kultursprachen übersetzt wurden. Sein Werk über „Kindersprache“ und die „Psychologie der frühen Kindheit“ stützten sich auf genaue Beobachtungen an seinen eigenen Kindern und auf die sorgfältigen Tagebücher seiner klugen und liebenswürdigen Frau, die seine treueste Mitarbeiterin war. Damals war er viel mit Methoden der Intelligenzprüfung beschäftigt; sein Verfahren der Berufseignungsprüfungen, mit dem er später im Hamburg praktisch durchdrang, wurde darin vorbereitet. Wir hatten gegen alle diese Dinge starke Bedenken, ebenso gegen sein allgemeines Prinzip der „goldenen Mitte“. Sein boshafter Kollege Hönigswald äußerte sich einmal zur Frage der Einführung von „Schulpsychologen“: „Der Schulpsychologe wird dann der mächtigste Mann im Staat. Er bestimmt einem jeden Menschen, was er werden soll, und wenn er jemanden ganz besonders gewogen ist, dann bestimmt er ihn zum Schulpsychologen!“ Sterns eifrigste Schüler waren seine schärfsten sachlichen Gegner. Wir saßen im Seminar an dem hufeisenförmigen Tisch rechts und links von ihm und antworteten oft wie

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 131. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/146&oldid=- (Version vom 31.7.2018)