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aus einem Munde mit einem lebhaften und entschiedenen „Nein!“ Er nahm uns das nicht übel, war immer gleich gütig und freundlich, behielt aber seine eigene Linie unbeirrt bei. Popp, dieser radikale Denker, konnte sich natürlich bei einer so vorsichtigen Mittellinie nicht beruhigen. Er ging seine eigenen Wege. Ich wurde gründlich in seine Probleme eingeweiht, denn von meiner ersten Einführung in die Gruppe an war es sein Ehrenamt, mich heimzubegleiten. Er hat es sich nie von jemand anderm abnehmen lassen, obwohl sich meist noch mehrere andere uns anschlossen. Wenn wir vor unserm Hause anlangten, war er gewöhnlich noch lange nicht mit seinen Erörterungen fertig. Ich mußte dann eine ganze Weile mit ihm vor dem Gitter unseres Vorgärtchens auf- und abspazieren, um den Vortrag zu Ende anzuhören. Manchmal kam inzwischen mein Bruder heim, ich habe die beiden vor dem Gittertürchen einander vorgestellt.

Diese Gespräche spät abends vor der Haustür waren nicht im Sinne meiner Mutter. Sie glaubte dagegen Einspruch erheben zu müssen und sagte, das erinnere ja ganz an meine Schwester Eise, die auch oft abends, wenn sie heimkam, noch solche „Standerln“ vor der Tür gehabt hätte. Ich wies das mit Empörung zurück: ich bäte dringend, mich nicht mit Eise zu vergleichen. Ich wußte wohl, daß es sich dort um „Verehrer“ gehandelt hatte, und davon war in diesem Fall wirklich keine Spur. Meine Mutter hatte wohl auch nicht diesen Verdacht. Aber natürlich – die Leute aus der Nachbarschaft, die uns bei diesen nächtlichen Promenaden zuschauen mochten, konnten nicht ahnen, daß wir in psychologische oder erkenntnistheoretische Probleme vertieft waren. Doch solche Rücksichten lagen uns damals fern. Wir betonten bei jeder Gelegenheit, es sei uns gleichgültig, was „man“ sagte und was „die Leute“ dächten. Es war eine der wenigen scharfen und ungezogenen Antworten, die meine Mutter von mir bekommen hat; ich habe sie später bitter bereut.

Im Sommer 1912 arbeitete Dr. Popp für sein Staatsexamen. Wenn es in seinem Studierzimmer so heiß wurde, daß sein Kopf nicht mehr funktionieren wollte, ging er in die Küche an den heißen Ofen. Kehrte er nach einer Weile an seinen Schreibtisch zurück, dann empfand er eine so angenehme Abkühlung, daß das Gehirn nun wieder zur Arbeit fähig war. Als er sein Staatsexamen hinter sich hatte und an eine Schule in der Provinz gehen sollte, bat er mich auf einer Postkarte noch um einen Abschiedsspaziergang. Er hätte auf seinen Karten die intimsten Geheimnisse schreiben können, denn niemand außer mir vermochte seine Hieroglyphen zu entziffern. Es war die erste und letzte Verabredung. Er wollte sich vor dem Untertauchen ins Philisterium noch einmal gründlich aussprechen.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 132. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/147&oldid=- (Version vom 2.8.2019)