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fehlen diese Erfahrungen. Vor allem wird der Jugend, die heute von frühester Kindheit an im Rassenhaß erzogen wird, die Gelegenheit dazu abgeschnitten. Ihnen gegenüber haben wir, die wir im Judentum groß geworden sind, die Pflicht, Zeugnis abzulegen.

Was ich auf diesen Blättern niederschreiben will, soll keine Apologie des Judentums sein. Die „Idee“ des Judentums zu entwickeln und gegen Verfälschungen zu verteidigen, den Gehalt der jüdischen Religion darzulegen, die Geschichte des jüdischen Volkes zu schreiben – zu all dem sind Berufene da. Und wer sich darüber unterrichten will, der findet eine ausgebreitete Literatur vor. Ich möchte nur schlicht berichten, was ich als jüdisches Menschentum erfahren habe; ein Zeugnis neben andern, die bereits im Druck vorliegen[1] oder in Zukunft erscheinen werden: wem es darum zu tun ist, sich unbefangen aus Quellen zu unterrichten, dem will es Kunde geben.


Es war zunächst meine Absicht, die Lebenserinnerungen meiner Mutter aufzuzeichnen. Sie war immer unerschöpflich im Erzählen, und wenn ich auch nicht hoffen konnte, daß ihr in ihrem hohen Alter – sie steht im 84. Jahr – noch die Niederschrift gelingen würde, so wollte ich doch versuchen, mir erzählen zu lassen und ihre Worte möglichst getreu wiederzugeben. Aber auch das erwies sich als sehr schwierig. Es fanden sich nicht genug ruhige Stunden dafür. Ich mußte bestimmte Fragen stellen, um in den Strom der Erinnerungen so viel Ordnung und Klarheit zu bringen, wie für einen fremden Leser zum Verständnis unerläßlich war, und oft war es nicht möglich, greifbare und zuverlässige Tatsachen festzustellen. Ich stelle im Folgenden die kurzen Aufzeichnungen im Anschluß an die Gespräche mit meiner Mutter voran. Darauf soll ein Lebensbild meiner Mutter folgen, wie ich es selbst zu geben vermag.


Breslau 21.9.1933

Edith Stein



  1. Vgl. die Denkwürdigkeit der Gludert von Hamehr herausgegeben von Alfred Veilchenfeld, Jüdischer Verlag, Berlin 1920; Pauline Wengeroff, Memoiren einer Großmutter, Bilder aus der Kulturgeschichte Rußlands, Verlag Poppelaner, Berlin 1913.
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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 4. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/15&oldid=- (Version vom 31.7.2018)