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konnte ich auf den Fluß und die belebte Universitätsbrücke hinaussehen und kam mir vor wie ein Burgfräulein. Ebenso heimisch fühlte ich mich in dem nahegelegenen, ebenso ehrwürdigen Konviktgebäude, wo wir das psychologische und philosophische Seminar hatten, und in der Universitätsbibliothek, einem ehemaligen Augustinerchorherrnstift in der Sandstraße. Daneben liegt die Sandkirche, ein schwerer, frühgotischer Bau. Er ist die Dompfarrkirche, und gleich dahinter führt die kleine Dombrücke auf die Dominsel. Das ist eine stille, in sich abgeschlossene Welt. Die breite, gerade Domstraße führt von der Dombrücke an der Kreuzkirche mit ihrem schlanken, nadelspitzen gotischen Turm vorbei zum Hauptportal des Domes. Zu beiden Seiten liegen die niedrigen vornehm-schlichten Häuser der Domherrn, zunächst dem Dom das Palais des Fürsterzbischofs. Ich wählte gern den Weg über die Dominsel. Ich fühlte mich dort wie in einer Welt der Stille und des Friedens und wie in längst vergangene Jahrhunderte zurückversetzt. In die schönen Kirchen aber ging ich nicht hinein, vor allem nicht, wenn Gottesdienst darin war. Ich hatte ja dort nichts zu suchen und hätte es taktlos gefunden, andere in ihrer Andacht zu stören. Ein einzigesmal war ich mit Julia Heimann während einer Freistunde in der Matthiaskirche, die an der Universität anstößt und früher zu ihr gehörte; ein vermauertes Türchen verrät noch die ehemalige Verbindung.

Ich sah in der Universität wirklich meine „alma mater“, und so war es mir eine große Freude, an ihrem Jubelfest teilzunehmen. Natürlich waren wir bei dem großen Festakt in der Aula zugegen. Einige Bedenken gab es wegen der Teilnahme an dem Festkommers. Dafür war ein Riesenzelt auf dem Exerzierplatz vor dem königlichen Schloss aufgeschlagen, weil kein Saal groß genug war, um die Menge der „Alten Herren“ zu fassen, die zum Fest herbeiströmten. Im Studentinnenverein gab es große Beratungen; wir hatten Nachrichten aus Berlin, daß dort im vorausgegangenen Jahr beim Jubiläum der Berliner Universität der Kommers wenig schön verlaufen sei. Wir sagten darum zunächst ab. Nun kam eine zweite Einladung „Seiner Magnifizenz“, des Herrn Rektors: er würde doch sehr ungern die Studentinnen vermissen und wolle einige Professorendamen mit an unsern Tisch setzen, um uns gegen alle Unannehmlichkeiten zu schützen. Nun versprachen wir unser Erscheinen, die „Bemutterung“ aber lehnten wir als lächerlich ab. Wir wollten so lange bleiben, bis die eigentliche „Fidelitas“ anfinge, und uns dann still zurückziehen. Das ging sehr gut. Der Tisch mit den weißgekleideten Mädchen zog natürlich die Aufmerksamkeit aller Alten Herren auf sich, die in dem großen Zelt umhergingen und sich nach alten Bekannten umsahen: so etwas hatte es ja „zu ihrer

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 136. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/151&oldid=- (Version vom 31.7.2018)