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Zeit“ nicht gegeben. Es wurde ein reizendes Festspiel aufgeführt, das zwei Alte Herren gedichtet hatten: Redakteur Dr. Hermann Hamburger und Rechtsanwalt Dr. Tarnowski, beide in Breslau als geistvolle und witzige Menschen bekannt (beide Juden).

Als die Aufführungen und Ansprachen vorbei waren, verschwanden wir, ohne daß ein Mißton unsere Freude getrübt hätte.

Zu den vielen allgemein-studentischen Angelegenheiten kamen noch als weitere Nebenbeschäftigung einige Privatstunden. Ich hätte eigentlich lieber meine ganze Zeit dem Studium gewidmet, obwohl die Mehrzahl der Studenten sich auf diese Weise etwas verdiente. Meine Mutter sorgte ja für Unterhalt und Kolleggelder, und unsere wirtschaftlichen Verhältnisse waren jetzt so, daß niemanden damit ein Opfer auferlegt wurde. Darum schien es mir besser, die Zeit nicht unnötig zu zersplittern. Ich wurde aber immer wieder um Nachhilfestunden oder Vorbereitungsunterricht für eine höhere Gymnasialklasse angesprochen und konnte nicht alle Bittenden abweisen; so hatte ich fast immer einige Schülerinnen. Es fing schon an, als ich selbst noch aufs Gymnasium ging. Eines Tages kam der Schuldiener in unsere Zeichenstunde hinein und meldete, Fräulein Stein solle zum Herrn Direktor kommen. Das war etwas ganz Ungewöhnliches und setzte die ganze Klasse in Aufregung. Während ich die drei Treppen hinunterstieg, ging ich in Gedanken die letzten Wochen durch: es fiel mir nichts ein, wofür ich einen Vorwurf verdient hätte. So betrat ich ganz ruhig das Amtszimmer. Es war ein fremder Herr beim Direktor, der besorgte Vater einer Untertertianerin. Sie stand sehr schlecht und hatte kaum noch Aussicht auf Versetzung. Der Direktor schlug als letzten Versuch Beaufsichtigung der Schularbeiten vor und bat mich, dieses Amt zu übernehmen. Es lockte mich wenig, aber beide Herren drängten so sehr, daß ich schließlich zusagte. Ich bemerkte bald, daß nichts zu machen sei; das Kind hatte weder Begabung noch Neigung zum Studium und quälte sich ganz nutzlos. Ich erklärte dem Direktor, es sei mir peinlich, für eine so aussichtslose Sache Bezahlung anzunehmen. Er redete mir aber zu, bis Ostern auszuhalten. Der Vater wisse, daß keine Aussicht sei und wolle sich nur die Beruhigung verschaffen, alles Erdenkliche getan zu haben. Ostern wurde ich also von dieser ersten Schülerin frei. Aber nicht lange danach kam eine andere.

In der Untertertia war ein reizendes Polenkind, 15 Jahre alt, blondlockig und blauäugig und überaus temperamentvoll. In der Pause sah man sie meist in einem Kreis von älteren Mädchen, die sie bewunderten und sich über ihr komisches Deutsch amüsierten. Ich beteiligte mich nie daran. Eines Tages hängte sie sich auf dem

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 137. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/152&oldid=- (Version vom 31.7.2018)