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Schulhof plötzlich an meinen Arm und zog mich von meinen Klassengefährtinnen weg. Sie stünde schlecht in der Schule und sollte Pfingsten in Breslau bleiben, um während der Ferien tüchtig zu wiederholen. Ihre Pensionsmutter – eine alte Dame, die mit der Familie des Direktors befreundet war – würde an mich schreiben, aber sie hätte gern schon vorher mit mir sprechen und mich bitten wollen, mit ihr zu arbeiten. Ich ging während der kurzen Pfingstferien jeden Morgen zu ihr. Ich konnte sie nicht zu mir kommen lassen, weil sie nicht allein ausgehen durfte. Lena war gut begabt und lernte jetzt bei mir eifrig. Sie bewunderte mein Wissen sehr und faßte auch in diesen einsamen Ferientagen eine lebhafte Zuneigung zu mir. Eines Tages bat sie mich schmeichelnd, mit ihr in die Oper zu gehen. Ohne Begleitung dürfte sie es nicht und sie wünschte es sich so sehr. Es würde „Carmen“ gegeben. „Ich möchte Carmen sein“, sagte sie mit blitzenden Augen, „daß alle Männer mich lieben müßten!“ Ich sah mir das kleine Persönchen ganz betroffen an. Sie war für ihr Alter gut entwickelt und konnte für 18 Jahre gelten. Und ich kam mir neben diesem Kinde auf einmal vor wie ein unerfahrenes Mädchen neben einer wissenden Frau. Als ich am Morgen des Theaterabends in ihre Pension kam, empfing sie mich mit einer Trauerbotschaft: ihr Vater sei schwer erkrankt und sie müsse sofort heimfahren. Sie bat mich, die Theaterkarten mit meiner Schwester zu benützen. Als sie sah, daß ich in meiner Teilnahme selbst wenig Lust zum Theaterbesuch hatte, redete sie mir zu, doch ja hinzugehen. Dann umarmte und küßte sie mich weinend. Erna und ich gingen in die Oper, aber ich dachte an das arme Kind, das nun allein die traurige Reise machte. Lena kam in Trauerkleidern zurück. Sie hatte ihren Vater nicht mehr lebend getroffen.

Aus derselben Pension Scheel bekam ich noch mehrere Schülerinnen. Ein Bittbrief um Stunden erwartete mich schon als ich zum Beginn meines Studiums aus Chemnitz kam. Das Honorar für meine Tätigkeit lieferte ich meiner Mutter ab. Sie nahm den ersten Verdienst ihrer Jüngsten mit freudigem Stolz entgegen. Er wurde gar nicht wie gewöhnliches Geld behandelt, d.h. er durfte nicht ausgegeben werden. Weihnachten 1911 wollte ich von dem Ersparten mit Erna zusammen eine Winterfahrt ins Riesengebirge machen. Meine Mutter stimmte bereitwillig zu und gab uns auch noch Rosa mit. Die Kosten aber bestritt sie aus ihrer Tasche, und mein Schatz blieb unangetastet. Freilich wurde er nicht in einen Strumpf gesteckt. Alles bare Geld kam bei uns sofort in den Geschäftsbetrieb und wurde uns „gutgeschrieben“. Wir hatten alle ein eigenes Konto im Geschäft. Unsere Großmutter Stein hatte jeder von uns einige tausend Mark hinterlassen. Als unter der Leitung unserer Mutter das

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 138. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/153&oldid=- (Version vom 31.7.2018)