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Verkehr mit Kommilitonen sei ich gewöhnt und auch ihm gegenüber dazu bereit, jeden andern Gedanken aber müsse er aufgeben. Dieser Vorschlag wurde angenommen, und erstaunlicherweise glückte es dem neuen Freunde, die aufkeimende Neigung zu unterdrücken, obwohl wir uns nun fast täglich in der Universität trafen und viel zusammen arbeiteten. Ich habe nie etwas abzuwehren brauchen. Noch in den Ferien fingen wir an, zusammen sehr energisch Gotisch zu treiben, da wir zu Beginn des Wintersemesters in die Oberstufe des Germanistischen Seminars aufgenommen werden wollten und in der Aufnahmeprüfung gründliche Kenntnis des Gotischen nachweisen mußten. Wir lasen den ganzen Evangelientext des Ulfilas durch; um das Übersetzen ins Gotische zu üben, machten wir uns gegenseitig Texte zurecht. Außer Deutsch hatten wir kein Fach gemeinsam. Er hatte daneben neue Sprachen, das Thema für die Doktorarbeit ließ er sich aus der deutschen Literatur geben (über Gutzkows Dramen). Nach Semesteranfang schlug er mir vor, daß wir uns jede Woche einmal auf einem Spaziergang Rechenschaft über unsere Vorlesungen geben sollten. Allerdings war er dann immer beschämt, weil er mir nur einige trockene philologische Daten zu bringen hatte, während ich die interessantesten philosophischen und historischen Vorträge halten konnte und immer viel mehr Stoff hatte als sich in unserer Zeit unterbringen ließ. Er prophezeite mir damals schon ein glänzendes Examen. Auch Herr Popp hatte das schon getan; er stützte sich dabei allerdings weniger auf den Nachweis meiner Kenntnis als auf sein psychologisches Urteil, das mir die geeignete Examensnatur zusprach.

Eduard Metis betätigte sich neben dem Studium schon etwas als Journalist. Er hatte feste Verbindungen zur Breslauer Zeitung, dem alten liberalen Blatt, das in fast allen jüdischen Familien gelesen wurde. Die Sonntagsnummer brachte regelmäßig eine Literaturbeilage, und darin fanden sich meist einige Buchbesprechungen, die E.M. gezeichnet waren. Natürlich las ich sie jetzt mit doppeltem Interesse, seit ich den Verfasser kannte. Es war ihm auch immer sehr wichtig, mein Urteil über diese ersten literarischen Versuche zu hören. Einmal fand ich in der Besprechung eines Novellenbandes erotische Dinge in etwas frivolem Ton behandelt. Das regte mich sehr auf. Ich hatte diesen freundschaftlichen Verkehr aufgenommen in dem festen Vertrauen, es mit einem ganz reinen Menschen zu tun zu haben. Sollte ich mich getäuscht haben? Dann wäre es mit der Freundschaft aus. Ich wollte nicht mit Leuten umgehen, die in diesem Punkt nicht ganz sauber wären. Erna hatte mit Hans Biberstein einmal eine Aussprache über solche Fragen gehabt, und wir waren hinterher beide sehr glücklich, daß wir uns auf ihn verlassen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 141. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/156&oldid=- (Version vom 31.7.2018)