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konnten. Ich wollte auch jetzt der Sache auf den Grund gehen. Als wir uns am nächsten Tage in einer Freistunde trafen, mußte der Arme eine gehörige Predigt über sich ergehen lassen. Er hörte sie ganz still an und war vielleicht noch erregter als ich. Als ich fertig war, erklärte er mir, es sei ihm äußerst peinlich gewesen, solche Dinge berühren zu müssen, und er hätte möglichst schnell darüber hinwegkommen wollen. Dazu hatte er den üblichen leichten Journalistenton gewählt. Auf eine solche Wirkung war er nicht gefaßt. An seiner Ehrlichkeit war nicht zu zweifeln. So waren wir schnell wieder versöhnt: „Ach, wenn doch meine Mutter diese Unterredung gehört hätte“, sagte er am Ende. Er hatte etwas mädchenhaft Zartes. Er war groß und schlank, und das schmale Gesicht war meist etwas gerötet; äußerlich war ihm keine Krankheit anzumerken, aber er litt sehr an Migräne und war an manchen Tagen ganz arbeitsunfähig. Da ich meine ganze Studienzeit hindurch immer völlig frisch und gesund war, so hatte ich für ihn immer etwas von dem Mitleid gegenüber dem vital Schwächeren.

Metis hatte etwas, was ihn von all meinen andern Gefährten unterschied: er war ein strenggläubiger und gesetzestreuer Jude. Wir sprachen nicht viel davon; ich ließ ihn gewähren, und er bemühte sich nicht, auf mich Einfluß zu gewinnen. Wenn er bei mir zum Arbeiten war, nahm er nur etwas Obst an. Als ich ihm einmal Gebäck anbot, sagte er lächelnd: „Was ich nicht definieren kann, das sehe ich als verboten an“. Eines Tages, als ich mit ihm unterwegs war, hatte ich in einem Hause etwas zu erledigen. Ich gab ihm vor der Haustür schnell meine Aktenmappe zum Halten und ging hinein. Zu spät fiel mir ein, daß es Samstag sei und daß man am Sabbath nichts tragen dürfte. Im Torbogen fand ich ihn geduldig warten. Ich entschuldigte mich, daß ich ihn in meiner Gedankenlosigkeit zu etwas Verbotenem genötigt hätte. „Ich habe nichts Verbotenes getan“, sagte er ruhig, „nur auf der Straße darf man nichts tragen, im Hause ist es erlaubt“. Dazu war er im Eingang stehen geblieben und hatte sich sorgfältig gehütet, einen Fuß auf die Straße zu setzen. Das war eine der talmudistischen Spitzfindigkeiten, die mich abstießen. Ich sagte aber nichts.

Als ich später in Göttingen anfing, mich mit religiösen Fragen zu beschäftigen, fragte ich ihn einmal brieflich nach seiner Gottesidee: Ob er an einen persönlichen Gott glaube. Er antwortete kurz: Gott ist Geist. Mehr sei darüber nicht zu sagen. Das war mir, als ob ich einen Stein statt Brot bekommen hätte.

Ich bekam nach Göttingen regelmäßig jede Woche einen Brief. In den Ferien arbeiteten wir zusammen deutsche Literatur: ich fürs Staatsexamen, er zur Doktorprüfung. In dieser Prüfung hatte er

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 142. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/157&oldid=- (Version vom 31.7.2018)