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immer wieder Edmund Husserls „Logische Untersuchungen“ angeführt. Eines Tages traf mich Dr. Moskiewicz bei dieser Beschäftigung im Psychologischen Seminar. „Lassen Sie doch all das Zeug“, sagte er, „ und lesen Sie das hier; die andern Leute haben ja doch alles nur daher“. Er reichte mir ein dickes Buch: es war der II. Band von Husserls „Logischen Untersuchungen“. Ich konnte mich nicht sofort darauf stürzen, das erlaubten die laufenden Semesterarbeiten nicht; aber ich nahm es mir für die nächsten Ferien vor. Mos kannte Husserl persönlich; er hatte ein Semester bei ihm in Göttingen studiert und sehnte sich immer wieder dorthin. „In Göttingen wird nur philosophiert – Tag und Nacht, beim Essen, auf der Straße, überall. Man spricht nur von ‘Phänomenen’“. Eines Tages war in den illustrierten Zeitungen das Bild einer Göttinger Studentin zu sehen, die eine philosophische Preisarbeit gemacht hatte: Husserls glänzend begabte Schülerin Hedwig Martius. Mos kannte auch sie und wußte, daß sie sich eben mit einem älteren Husserlschüler, Hans Theodor Conrad, verheiratet hatte. Als ich einmal wieder abends spät nach Hause kam, fand ich auf dem Tisch einen Brief aus Göttingen. Mein Vetter Richard Courant war seit kurzem dort Privatdozent für Mathematik und hatte sich eben mit seiner Studienfreundin Nelli Neumann, einer Breslauerin, verheiratet. Dieser Brief war von Nelli an meine Mutter gerichtet und enthielt den Dank für unser Hochzeitsgeschenk. Er schilderte auch das Leben des jungen Paares; und dabei kam dann der Satz: „Richard hat viele Freunde, aber wenig Freundinnen mit in die Ehe gebracht. Möchtest Du nicht Erna und Edith zum Studium herschicken? Das wäre dann etwas Ausgleich“. Dies war der letzte Tropfen, der bei mir gerade noch fehlte. Am nächsten Tage teilte ich der staunenden Familie mit, daß ich im kommenden Sommersemester nach Göttingen gehen wolle. Da ihnen die ganze vorausgehende Entwicklung unbekannt war, kam es wie ein Blitz aus heiterm Himmel. Meine Mutter sagte: „Wenn es für dein Studium nötig ist, will ich dir gewiß nicht im Wege sein“. Aber sie war sehr traurig – viel trauriger als es der Trennung für ein kurzes Sommersemester entsprach. „Es gefällt ihr nicht mehr bei uns“, sagte sie einmal in meiner Gegenwart zur kleinen Erika. Das Kind hing sehr an mir. Sie liebte es, bei mir im Zimmer zu sein, während ich arbeitete. Ich setzte sie auf den Teppich und gab ihr ein Buch mit Bildern in die Hand. Dann war sie still beschäftigt und störte mich nicht. Man konnte ihr die besten Bücher geben. Sie beschädigte keines. Und sie verlangte keine andere Unterhaltung, sondern blieb ruhig und zufrieden da, bis sie jemand herausholte.

Der erste Schritt zur Ausführung meines Planes war eine Karte

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/162&oldid=- (Version vom 31.7.2018)