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Allmählich wurden alle nötigen Vorbereitungen zum Aufbruch getroffen. Nachdem für mich selbst der Sommer in Göttingen gesichert war, kam mir ein neuer Gedanke. Göttingen war ja nicht nur ein Paradies für Philosophen, sondern auch für Mathematiker. So machte ich Rose den Vorschlag mit mir zu gehen. Es lockte sie natürlich sehr, aber sie hatte Bedenken, ob sie es sich leisten könnte. Sie pflegte sich ja durch Privatstunden ihr Studium zu verdienen, und davon konnte an einer fremden Universität keine Rede sein; dort mußte dann alle Zeit ausgenützt werden, um die Anregungen aufzunehmen, die sie bot. Das war es aber gerade, was ich für Rose wünschte. Ihre ständige Überarbeitung in so jungen Jahren machte mir Sorge, und ich hätte sie gern wenigstens für ein paar Monate diesem Betrieb entzogen. Eines Tages, als ich mit meiner Mutter allein war, fragte ich scherzend: „Mutti, bist du eine reiche Frau?“ Sie antwortete im selben Ton: „Ja, mein Kind; was möchtest du denn?“ Nun rückte ich mit meinem Anliegen heraus, ob sie Rose die Mittel geben wollte, um ein Semester in Göttingen zu studieren. Sie war sofort dazu bereit. Als ich meiner Freundin das mitteilte, entschloß sie sich, mit mir zu gehen; nach Rücksprache mit ihren Angehörigen ergab es sich auch, daß sie es aus eigenen Mitteln konnte und die Güte meiner Mutter nicht in Anspruch zu nehmen brauchte. Unser Entschluß brachte auch bei Georg Moskiewicz den Plan zur Reife, noch einmal nach Göttingen zu gehen. Das war für uns sehr angenehm, weil er schon dort bekannt war und uns in den Kreis der Phänomenologen einführen konnte.

Ich hatte nie daran gedacht für länger als ein Semester fortzugehen. Wenn das Studium an einer kleinen Universität auch damals ein billiges Vergnügen war, so kostete es immerhin mehr als wenn man zu Hause war. Und die von Kindheit an gewöhnte Sparsamkeit ließ den Wunsch gar nicht aufkommen, eine solche Mehrausgabe für längere Zeit in Anspruch zu nehmen. Darum schien mir auch die Betrübnis meiner Mutter über die bevorstehende Trennung übertrieben. Im tiefsten Herzen hatte ich aber – wie sie wohl auch – eine geheime Ahnung, daß es ein schärfer einschneidender Abschied sei. Und wie um dieser kaum bewußten Ahnung entgegenzuarbeiten, tat ich etwas, was mich zur Rückkehr zwingen sollte: ich ging zu Professor Stern, um mir ein Thema für eine psychologische Doktorarbeit zu erbitten. Ich zog ihn den andern Philosophen vor, weil ich nach meinen bisherigen Erfahrungen glaubte, daß er mir am meisten freie Hand lassen würde. Aber darin hatte ich mich getäuscht. Er hatte unsere Kritik an seinen Methoden im Seminar immer freundlich und ohne jede Empfindlichkeit aufgenommen. Aber er war so festgelegt auf seine Idee, daß er durch

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/166&oldid=- (Version vom 31.7.2018)