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VI
Aus dem Tagebuch zweier Mädchenherzen


1.

Ehe ich daran gehe, über diesen neuen und so entscheidenden Lebensabschnitt zu berichten, muß ich die Geschichte meiner Schwester Erna fortführen. In meinem ersten Semester, im Sommer 1911, machte sie ihr Physikum. Die vielen Prüflinge waren in Gruppen zu je vier eingeteilt. Erna und Hans Biberstein waren natürlich in einer Gruppe und bereiteten sich zusammen vor. Sie hatten Mühe, noch zwei Gefährten zu finden, weil man ihren Fleiß und ihre guten Kenntnisse fürchtete. Da die Prüfung öffentlich war, ließ ich es mir nicht nehmen, ihr beizuwohnen. In Physiologie konnte ich sogar auf Grund meines Psychologiekollegs schon etwas vorsagen; darauf war ich sehr stolz. Erna schnitt mit dem Gesamtergebnis l ab; aber Hans, der begabte, fleißige und so ehrgeizige Hans, hatte einen „Schwanz“ – er hatte in Zoologie versagt und mußte in diesem Fach einige Zeit später noch einmal geprüft werden. Das Physikum gilt selbst mit mehreren „Schwänzen“ noch als bestanden; sie kommen häufig vor, und andere Leute tragen sie mit Humor. Hans aber kränkte sich bitter und konnte lange nicht darüber hinwegkommen; fast noch mehr ärgerte sich unsere Mutter über die „Schande“. Die gute Erna hätte von Herzen gern mit ihm getauscht und konnte ihrer blanken Eins nicht froh werden. Zum Glück ging es beim Staatsexamen besser. Hier ernteten beide auf allen Stationen eine Eins. Bald darauf durften sie die mündliche Doktorprüfung machen, ehe noch ihre Arbeiten abgeschlossen waren. Sie hatten beide in der inneren Klinik unter der Leitung eines tüchtigen jungen Assistenten – Dr. Felix Rosenthal, dem Sohn eines orthodoxen Rabbiners – serologische Untersuchungen gemacht, Erna an weißen Mäusen, Hans an Kaninchen; die Versuchsreihen waren abgeschlossen, das Zusammenschreiben der Ergebnisse durfte als unwesentlich bis nach der Prüfung verschoben werden.

Im Frühsommer 1914 waren die Prüfungen beendet. Sie hatten große Anforderungen gestellt, und nun war eine Erholung wohlverdient. Das Pärchen hätte sehr gern nach der gemeinsamen Arbeit eine gemeinsame Reise gemacht. Aber die beiden so ganz allein in die Welt hinausfliegen zu lassen, das ging doch zu sehr gegen alles

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/168&oldid=- (Version vom 31.7.2018)