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Herkommen. Unsere Mütter kamen uns und sich selbst ohnehin schon immer wie Hennen vor, die junge Entlein ausgebrütet haben und sie nun mit Schrecken davonschwimmen sehen. Diesmal gab es einen entschiedenen Einspruch. Da griff ich ein, teils aus treuer Schwesterliebe und Freundschaft, teils aus Freude daran, den „Leuten“ ein Schnippchen zu schlagen. Ich schlug den beiden vor, mich in Göttingen zu besuchen, und das wurde vom Familienrat genehmigt. Ob der Gedanke ursprünglich von mir oder von Hans ausging, weiß ich nicht mehr. Jedenfalls kamen die beiden eines Tages nach Göttingen. Erna konnte bei mir wohnen, Hans wurde von einem Breslauer Bekannten gastfreundlich aufgenommen. Dieser gute Erich Danziger und eine ältere Breslauer Freundin, die in diesem Sommer in Göttingen studierte – Toni Meyer – halfen mir treu meinen Gästen den Aufenthalt angenehm zu machen. Es war ja noch mitten im Semester, ich hatte viel Arbeit und konnte mich nur verhältnismäßig wenig um sie kümmern. Aber ich hatte einen großen Plan für sie aufgestellt und sorgte dafür, daß sie die schönen Weser- und Leineberge, Kassel und seine herrlichen Bildergalerien, das entzückende alte Hannoverisch-Münden und Hildesheim kennen lernten. Hans mußte etwas früher abreisen. Mit Erna machten Danziger und ich noch zum Schluß eine mehrtägige Harzwanderung. Ich glaube fast, daß diese Tage für Erna die friedlichsten und schönsten waren. Auch in Göttingen waren die Stunden, in denen wir alle zusammen waren, ungetrübt fröhlich. Auf den Ausflügen zu zweien aber gab es, wie ich später hörte, häufig Zusammenstöße, die die Freude an der schönen Natur und den alten Kulturstätten störten.

Wenige Wochen nach diesem Besuch brach der Krieg aus. Hans meldete sich sofort zum Felddienst. Er wurde als Feldunterarzt eingestellt – alle, die damals gerade die Prüfung bestanden hatten, erhielten gleich die Approbation, nicht wie sonst erst nach einem Praktikantenjahr; er kam zunächst in einen Lazarettzug und auf diese Weise häufig besuchsweise nach Breslau oder doch so in die Nähe, daß seine Mutter und Erna ihn besuchen konnten. Erst viel später wurde er Truppenarzt im Feld, erhielt die Beförderung zum Feldarzt und schließlich zum Feldoberarzt. Damit hatte er Offiziersrang und fühlte sich auch durchaus als Offizier. Erna wurde kurz nach Kriegsausbruch vom Chef der Universitäts-Frauenklinik, dem alten Geheimrat Küttner auf der Straße angehalten und gefragt, ob sie als Assistentin zu ihm kommen wolle. Natürlich sagte sie sofort zu: es war eine Ausbildungsmöglichkeit, auf die man im Frieden nie hätte rechnen können. Der Andrang zu diesen Stellen war sonst so groß, daß man froh war, wenn man als Volontär ankam

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 152. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/169&oldid=- (Version vom 31.7.2018)