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Im Sommer 1917 kamen Erna, Rose und Lilli zu mir nach Freiburg und wir gingen zusammen für einige Wochen in den Schwarzwald. Auf der einsamen Höhe des Herzogenhorn lebten wir so frei und ungezwungen und so einträchtig wie früher im schlesischen Gebirge. Als es sich um die Frage handelte, ob Erna nach Ablauf des ersten Berliner Jahres an die Frauenklinik nach Breslau zurückkehren solle, riet ich entschieden dazu, trotzdem mancherlei Unannehmlichkeiten auf sie warteten. Es schien mir der geradeste Weg zum Abschluß ihrer Ausbildung als Frauenärztin. In den folgenden Sommerferien hatten Rose und Lilli das Verlangen, etwas Neues kennenzulernen. Erna aber schloß sich ihnen nicht an, sondern zog es vor, wieder zu mir zu kommen. Wir blieben diesmal in Freiburg, und ich machte sie in meinen freien Stunden mit der schönen Umgebung bekannt. Sie stand wieder vor einer Entscheidung, über die sie mit mir beraten wollte. In einigen Monaten wollte sie sich niederlassen. Unsere Mutter wollte sie am liebsten im Hause haben und wollte ihr zwei nebeneinanderliegende Räume im Erdgeschoß als Warte- und Sprechzimmer einrichten. Andere Leute aber redeten ihr zu, eine Wohnung im Süden der Stadt zu wählen, weil dort die reichen jüdischen Familien wohnten; da wäre mehr Aussicht auf eine einträgliche Praxis als bei uns im Nordosten, wo man hauptsächlich mit Proletariern, bestenfalls mit kleinen und mittleren Beamten zu rechnen hätte, jedenfalls vorwiegend mit Kassenpatienten. Erna zog es nicht zu den reichen und verwöhnten Damen des Südens. „Ich glaube, ich würde es doch nicht verstehen, mit diesen Leuten umzugehen. Ich will ja auch keine Reichtümer sammeln; wenn ich nur soviel verdienen kann, wie wir zum Leben brauchen“. Das war durchaus in meinem Sinn. Dazu kamen noch die praktischen Erwägungen, daß in jener Zeit eine Wohnungseinrichtung kaum erschwinglich war, und daß Erna im Hause unserer Mutter stets auf die Hilfe der Schwestern rechnen konnte, während sie anderswo mit fremdem Personal arbeiten müßte. So entschlossen wir uns für einen bescheidenen Anfang in der Michaelisstr. 38.

Wenige Monate danach kam der große Zusammenbruch, das Ende des Krieges, die Revolution. Zur Beruhigung meiner Mutter ging ich damals nach Hause – nicht, als hätten die politischen Verhältnisse ihr Furcht eingeflößt; das konnten sie nicht; aber sie hätte mich in so unruhigen Zeiten sehr ungern in so weiter Ferne gewußt. Zur selben Zeit etwa gab auch Erna ihre Stellung an der Frauenklinik auf, um ihre Niederlassung vorzubereiten. Und so kehrten wir gleichzeitig ins Elternhaus zurück und bezogen wieder unser gemeinsames Schlafzimmer im Giebel. Sie durfte sich für ihre Praxis die schon erwähnten Zimmer im Erdgeschoß einrichten. Mir aber

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/172&oldid=- (Version vom 31.7.2018)