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stellte meine Mutter in der Freude, mich wieder daheim zu haben, den großen „Saal“ im ersten Stock als Arbeitszimmer zur Verfügung.

Es dauerte sehr lange, bis Hans aus dem Feld zurückkam. Für ihn hatte der Krieg bis zuletzt einen romantischen Schimmer behalten, und er konnte sich in den Zusammenbruch durchaus nicht finden. Als sein Hauptmann – Professor Lehnel, ein Göttinger Jurist – fiel, ließ er bei jedem Stellungswechsel die Leiche wieder ausgraben und brachte sie auf dem langen Rückzug wirklich bis in die Heimat mit – „wie die alten Goten ihren toten König“, sagte er selbst. Nach Ausbruch der Revolution sorgte er mit dem neuen Hauptmann dafür, daß ihre Mannschaften nicht auseinander liefen, sondern in geordnetem Zuge heimkämen. Mit dem Revolver in der Hand ritten sie neben den Leuten her, „um die Bande in Zucht zu halten“. Es war nicht nötig, von dem Revolver Gebrauch zu machen. Der feste Ordnungswille genügte. In Deutschland erwartete Hans, zwei große Parteien zu finden: eine republikanische und eine Kaiserpartei; und er wollte sich mit Begeisterung für den Kaiser einsetzen. Er konnte es gar nicht fassen, daß niemand es wagte, sich zur Monarchie zu bekennen. Als er Ende Dezember endlich nach Breslau gelangte, fand er seine Braut und seine Mutter als Mitglieder der „Deutschen Demokratischen Partei“, und bei den Wahlen blieb ihm auch nichts anderes übrig als sich dafür zu entscheiden, denn weiter rechts konnte er als Jude auf keine Sympathien rechnen.

Lagen so über dem Wiedersehen schwere Schatten – das Glück des Vereintseins nach der jahrelangen Trennung brach doch siegreich durch. Eines Tages erschien Hans in feierlichem Schwarz bei meiner Mutter, um nun endlich in aller Form um Ernas Hand anzuhalten. In „meinem“ Saal wurde die Verlobung von beiden Familien mit herzlicher Freude gefeiert. Bald darauf gab es allerdings eine neue Trennung. Hans mußte ja nun erst mit seiner spezialärztlichen Ausbildung beginnen. Er wollte wie sein Bruder Fritz Dermatologe werden und ging jetzt zunächst für ein Jahr zu dem Bakteriologen Professor Morgenroth nach Berlin. Berlin in der Nachkriegszeit mit seinen bolschewistischen Unruhen, den Streiks, den Drahtverhauen und Barrikaden in den Straßen – eine schlimmere Umgebung hätte es für ihn kaum geben können. Er vergrub sich ganz in seine Arbeit; er, der die Geselligkeit so liebte, hatte gar keine Lust, auszugehen. Natürlich hatte er Heimweh und war meist in sehr trüber Stimmung. Während dieses Jahres (1919) hatte ich zweimal einige Tage in Berlin zu tun. In diesen Tagen lebte er auf. Er holte mich schon früh, ehe er in seinen Dienst ging, am Bahnhof ab und brachte mich zu meinen Verwandten: seit Onkel David Courant in Berlin wohnte, hatte ich dort mein Absteigquartier, und in diesem gastlichen Haus

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/173&oldid=- (Version vom 31.7.2018)