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an der Universitätsklinik: erst als Volontär, später als etatsmäßiger Assistent; schließlich rückte er zum Oberarzt auf. Er hatte sich herzlich auf diese Heimkehr gefreut; nun fand er seine Mutter und seine Braut leidend vor. Dieses Mißgeschick empfand er wie eine persönliche Kränkung; er empörte sich darüber wie ein verwöhntes Kind. Er verlangte, daß Erna jeden Tag Temperatur messen müsse, tatsächlich zeigte sich abends meist eine leichte Steigerung. Nun war für ihn kein Zweifel mehr, daß die Lunge angegriffen sei. Meine Mutter war außer sich. Sie kannte kein ärgeres Schreckgespenst als die „Schwindsucht“, und es schien ihr ausgeschlossen, daß in unserer gesunden Familie so etwas vorkommen könnte. Das tägliche Messen erschien ihr als die Wurzel des Übels; sie glaubte, daß Hans durch seine schwarzen Befürchtungen nur alle quälen wolle. Das war wohl nun nicht ganz richtig, aber der Ärger über die Familie spielte doch neben seiner Besorgnis eine große Rolle: Zu ihm hätte sie nicht kommen dürfen, aber um der Verwandten willen, denen sie als behandelnder Arzt nicht gut genug war, hätte sie ihre Gesundheit aufs Spiel setzen müssen. Schließlich schickten wir sie mitten im Winter für einige Wochen ins Riesengebirge. Dort erholte sie sich schnell und konnte ihre Praxis bald wieder aufnehmen.

Als Erna abgereist war, nahm ich mir meinen Schwager vor und bat ihn um das Versprechen, Erna während ihrer Erholungszeit Ruhe zu lassen und sie mit keinerlei Klagen oder Vorwürfen zu quälen. Wenn er oder seine Mutter sich durch irgend jemanden aus der Familie beleidigt fühlten – ein Fall, mit dem man erfahrungsgemäß in kurzen Abständen immer wieder rechnen mußte – dann sollte er es mir sagen; ich wolle mir die größte Mühe geben, Abhilfe zu schaffen. Nach einigem Zögern ging er darauf ein.


2.

Ich wohnte damals nicht zu Hause. Als unsere Cousine Selma Schlesinger starb, war ich in Hamburg, kam aber bald darauf nach Breslau zurück. Ihre Mutter – Tante Bianca, die älteste Schwester meiner Mutter – hatte die letzten Jahre mit ihr allein gelebt. Die älteste Tochter war in Budapest verheiratet, die zweite leitete ein Kinderheim in Berlin. Der einzige Sohn, der Stolz der ganzen Familie, hatte eine große ärztliche Praxis in Berlin. Tante Bianca war damals 75 Jahre alt, sie hatte ein unheilbares Augenleiden und war auch sonst kränklich. Trotzdem besorgte sie ihren kleinen Haushalt noch allein mit einem ganz jungen Dienstmädchen. Die Pflege ihrer

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 158. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/175&oldid=- (Version vom 31.7.2018)