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jüngsten Tochter, die bis zu ihrer Erkrankung einen Vertrauensposten als Büroangestellte bekleidete, war ihre Hauptbeschäftigung. Natürlich hatte sie der Verlust dieses geliebten Kindes sehr hart getroffen, und man konnte sie jetzt nicht allein lassen. Der Familienrat beschloß, daß eine ihrer Nichten bei ihr schlafen müsse. Erst war es Grete Pick, dann Martha Burchard. Aber beide waren tagsüber außerhalb des Hauses beruflich tätig und empfanden es als große Last, wenn sie sich abends nicht in ihr gewohntes Heim zurückziehen konnten. Beim ersten Besuch nach meiner Rückkehr durchschaute ich diese Situation und sagte zu meiner Mutter, als wir aus dem Hause heraustraten, ich würde recht gern zu der Tante übersiedeln, da die andern doch offenbar nur gezwungen bei ihr blieben. Meine Mutter war sehr erfreut über diesen Vorschlag, und auch allen andern Beteiligten war er willkommen. Am Neujahrstag übernahm ich mein neues Amt. Die Tante begrüßte mich überrascht und gerührt. „Bist du wirklich zu mir gekommen? Ich habe es gar nicht glauben können“. Tatsächlich war ich in diesem Hause fremder als bei den andern Verwandten. Aus einem sehr eigenartigen Grunde hatte der Verkehr zwischen den beiden Familien Jahre hindurch geruht. Unsere älteste Cousine Jenny war in ihrer Jugend mit unserm Schwager Max Gordon verlobt. Er hatte die Verbindung gelöst, weil man ihn drängte zu heiraten, ehe er noch imstande war, eine Frau zu ernähren. Als er sich viele Jahre später mit meiner Schwester Else verlobte, wurde das von der ganzen Familie Schlesinger als eine schwere Kränkung empfunden und sie betraten unser Haus nicht mehr, obgleich meine Mutter doch an dieser Verlobung gänzlich unschuldig war. Man muß der Tante ihren Schmerz darüber zugute halten, daß ihre drei schon reichlich bejahrten Töchter noch unverheiratet waren. Als es endlich noch glückte, für ihre Älteste einen Mann zu finden – einen Witwer mit drei Töchtern – söhnte sie sich sofort mit meiner Mutter aus.

Häusliche Pflichten brauchte ich nicht zu übernehmen. Im Gegenteil, es kam darauf an, daß die Tante wieder jemanden zu betreuen hatte. Sie hatte ihr Nähtischchen auf einem erhöhten Platz am Fenster, so daß sie die Strasse gut übersehen konnte. Das mußte nun mein Arbeitsplätzchen werden. Wenn ich dort schrieb und sie nicht gerade in der Küche beschäftigt war, saß sie ganz still mit ihrem Strickstrumpf am andern Fenster und sah mir ehrfürchtig zu. Für jedes Viertelstündchen, das ich mit ihr verplauderte, war sie herzlich dankbar; ebenso, wenn ich ihr etwas vorlas, da sie selbst mit ihren schwachen Augen kaum noch etwas lesen konnte.


Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 159. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/176&oldid=- (Version vom 31.7.2018)