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wenn ich noch immer einen scharfen Blick für die Schwächen der Menschen hatte, so benützte ich das nicht mehr, um sie an ihrer empfindlichen Stelle zu treffen, sondern um sie zu schonen. Auch die erzieherische Einstellung, die ich wohl immer noch hatte, hinderte mich daran nicht. Ich hatte es gelernt, daß man Menschen nur sehr selten bessert, indem man ihnen „die Wahrheit sagt“: das kann nur dann helfen, wenn sie selbst das ernste Verlangen haben, besser zu werden, und wenn sie einem das Recht zur Kritik einräumen. So war es auch in jenen Gesprächen mit meinem Schwager für mich das Wichtigste, daß ich ihn und seine Mutter in ihrer uns so fremden Wesensart besser kennenlernte. Ich habe Erna dadurch später oft beistehen können.

Im Laufe des Jahres 1920 wurde die Hochzeit vorbereitet. Die Wäscheaussteuer wurde für beide im Guten Hirten-Kloster genäht. Die Möbel ließ meine Mutter aus gutem Holz, das sie für diesen Zweck zurückgelegt hatte, von einigen ihrer Kunden arbeiten. Hans wollte alles möglichst elegant und modern und war nicht leicht zufrieden zu stellen.

Das Schwerste war, eine passende Wohnung zu finden. Es war die Zeit der größten Wohnungsnot. Während der Kriegsjahre hatte in ganz Deutschland die Bautätigkeit stillgestanden. Dazu kam, daß sich in Breslau die Flüchtlinge aus Posen und Oberschlesien zusammendrängten. Man konnte nur auf Karten durch Vermittlung des Wohnungsamtes eine Unterkunft bekommen. Erna und Hans hatten No. 23000 (es war etwas darüber, ich weiß die genaue Zahl nicht mehr). Es war klar, daß sie darauf nicht warten konnten. Es blieb nichts übrig, als den Giebel unseres Hauses für sie herzurichten. Dazu mußte erst eine sehr unangenehme Haushälterin, die nicht in Güte zum Ausziehen zu bewegen war, durch ein langes Gerichtsverfahren ausquartiert werden.

Während dieses ganzen Jahres war ich in Breslau. Es brannte mir zwar dort der Boden unter den Füßen. Ich befand mich in einer inneren Krisis, die meinen Angehörigen verborgen war und die in unserm Hause nicht gelöst werden konnte. Doch ich hätte nicht fortgehen mögen, ehe Ernas Los entschieden war. Ihre Brautzeit war eine lang ausgedehnte Qual. Wenn sie morgens aus unserm Giebelzimmer herunterkam, saß ich gewöhnlich schon an meinem Schreibtisch bei der Arbeit. Dann kam sie regelmäßig herein, um mir zu berichten, was sich am Abend vorher zugetragen hatte. Die Verlobten waren ja täglich bei uns oder bei Bibersteins zusammen. Sehr oft fing sie mit den Worten an: „Ich weiß mir keinen Rat mehr, ich bin am Verzweifeln“. Dann ließ ich sie auf dem Stuhl neben meinem Schreibtisch – mir schräg gegenüber – niedersetzen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 161. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/178&oldid=- (Version vom 31.7.2018)