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(meine Freundin Trude Kuznitzky nannte ihn immer den „Sprechstunden-Stuhl“) und alles erzählen und riet ihr, so gut ich konnte. Meine Richtschnur war immer: Nachgeben in allem, was kein Unrecht wäre. Nach der Aussprache ging sie erleichtert hinunter zum Frühstück und in ihre Sprechstunde. Es handelte sich meist um ähnliche Fälle wie der, den ich vorhin als Beispiel erzählte. Aber es stand doch etwas Ernsteres dahinter. Als Hans sich entgegen seinen jugendlichen Zukunftsplänen zur Heirat entschloß, hielt er daran fest, daß er sich von seiner Mutter nicht trennen wolle, und Erna willigte darein, daß sie zu ihnen ziehen solle. Aber die ganze Familie riet ihr davon ab, mit der Schwiegermutter gemeinsamen Haushalt zu führen, und sie selbst fürchtete sich davor. Auch Hansens Verwandte, die seine schöne und liebenswürdige Braut bald ins Herz geschlossen hatten, redeten heimlich auf meine Mutter ein, sie solle so etwas nicht zugeben, Erna würde zu viel zu leiden haben. Oft genug sagte meine Mutter in Gegenwart von Frau Biberstein, sie selbst hätte sich immer vorgenommen, niemals zu einem Kinde ins Haus zu ziehen. Praktisch löste sich die Frage dadurch, daß sich keine passende Wohnung fand. In unserm Giebel konnte die Mutter unmöglich mit untergebracht werden. Außerdem sollte sie ihre Wohnung im Süden behalten, um sie für Hans zu sichern, wenn er sich einmal niederlassen wollte. So brauchte das gefährliche Thema zwischen den Beteiligten gar nicht ausdrücklich verhandelt zu werden. Aber Mutter Biberstein und Hans spürten doch deutlich, wie froh meine Angehörigen über die ihnen so schmerzliche Lösung waren und daß selbst Erna aufatmete. Und daraus ergab sich jene Feindseligkeit besonders gegen meine Mutter, von der ich früher sprach. Die beiden wurden ganz blind gegen ihre großen menschlichen Vorzüge und behandelten sie mit so wenig Achtung, wie es ihr sonst kaum je begegnete. Daß sie sich dadurch gekränkt fühlte und dem Schwiegersohn nicht herzlich entgegenkommen konnte, ist begreiflich. Noch mehr als das, was ihr selbst widerfuhr, ging meiner Mutter das zu Herzen, was ihr Kind zu leiden hatte und vermutlich ihr ganzes Leben hindurch leiden müßte. Diese Sorge wurde manchmal so groß, daß sie eine Lösung der Verlobung ins Auge faßte, obwohl sie doch als echte jüdische Mutter nichts sehnlicher wünschte als ihre Töchter gut verheiratet zu sehen. Wenn Erna „am Verzweifeln“ war, dann tauchte auch bei ihr mitunter dieser Gedanke auf. Aber ich ließ ihn nicht aufkommen. Ich war fest davon überzeugt, daß die beiden für einander bestimmt seien und daß besonders Ernas Leben zerstört wäre, wenn die Ehe nicht zustande käme. Ich hoffte auch, daß vieles besser würde, sobald sie erst einmal verheiratet wären, weil viele Mißverständnisse durch

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/179&oldid=- (Version vom 31.7.2018)