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das Zusammenwachsen im gemeinsamen Leben von selbst verschwinden würden.

Anfang Dezember wurde die Hochzeit gefeiert. Es waren zwei Tage dafür nötig, weil selbst unsere großen Räume für die Zahl der Gäste nicht ausreichten. Am Tage der standesamtlichen Trauung kamen abends unsere Vettern und Cousinen sowie die nächsten Freundinnen, Lilli und Rose mit ihren Verlobten. Zur kirchlichen Trauung mit dem anschließenden Hochzeitsmahl waren nur die Geschwister des Brautpaares mit ihren Kindern und die Geschwister der Eltern geladen (d.h. zur Trauung kamen alle Verwandten und Bekannten, aber die ungeladenen Gäste zogen sich sofort danach zurück). Bei unserer ausgedehnten Familie ergab dieser „engste Kreis“ noch eine Tafel von über 50 Personen.

Mir ging es damals gesundheitlich recht schlecht, wohl infolge der seelischen Kämpfe, die ich ganz verborgen und ohne jede menschliche Hilfe durchmachte. Am Morgen der standesamtlichen Trauung, während die letzten schweren Möbel die Treppen hinauf getragen wurden, lag ich mit heftigen Schmerzen in einem unserer Schlafzimmer auf der Chaiselongue und zuckte bei jedem Geräusch zusammen. Als Erna einmal heraufkam, sagte sie, sie könne das nicht mitansehen und gab mir etwas Morphium. Abends war ich wieder ganz munter. Anfangs beteiligte ich mich nicht am Tanz. Aber als ich schon zu vorgerückter Stunde neben Hans am Flügel stand, begann plötzlich eine altbekannte, lebhafte Melodie. „Ist das nicht ein Dreher?“ fragte ich. Dieser Tanz war in unserer Studentenzeit aufgekommen, und ich hatte ihn von Hans gelernt. „Ja“, sagte er, „hast du etwa Lust zu tanzen? Ich habe es bisher nicht gewagt, dich zu bitten, weil es dir nicht gut war“. Wir fingen an und tanzten den ganzen etwas wilden Tanz durch. Als Hans mich dann zu einem Stuhl führen wollte, ging die Musik in einen langsamen Walzer über, „So“, sagte er, „nun müssen wir doch den Leuten zeigen, daß wir auch vornehm tanzen können“, und wir tanzten noch den ganzen Walzer durch. Es war für mich das letztemal, daß ich richtig tanzte. Nach Jahren habe ich es noch ein paarmal mit meinen Schülerinnen getan, wenn sie an Fastnacht sehr darum baten.

Die kirchliche Trauung fand bei uns im Hause statt. Ich richtete mit meinem Bruder Arno zusammen den Saal dafür her. Bei den jüdischen Trauungen sitzt die Braut zunächst auf einem abgesonderten Platz, während der Bräutigam mit dem Rabbiner und den andern Männern – es müssen mindestens zehn sein – in einem andern Raum betet. Dann spricht der Rabbiner einen Segen über sie, ehe sie der Bräutigam in feierlichem Zuge zum eigentlichen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/180&oldid=- (Version vom 31.7.2018)