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VII
Von den Studienjahren in Göttingen


1.

Es war ein weiter Weg, den ich zurückgelegt hatte, von jenem Apriltage i.J. 1913, an dem ich zum erstenmal nach Göttingen kam, bis zum März 1921, als ich wieder einmal dorthinfuhr – der größten Entscheidung meines Lebens entgegen.

Das liebe Göttingen! Ich glaube, nur, wer in den Jahren zwischen 1905 und 1914, der kurzen Blütezeit der Göttinger Phänomenologenschule, dort studiert hat, kann ermessen, was für uns in diesem Namen schwingt.

Ich war 21 Jahre alt und voller Erwartung dessen, was nun kommen sollte. In den Ferien hatte ich noch einen Besuch in Hamburg gemacht. Vor Ende April waren keine Vorlesungen; aber am 15 . war offizieller Semesterbeginn, dann waren die Amtsräume der Universität in Betrieb, ich konnte die Immatrikulation und alle andern äußeren Geschäfte erledigen und gleich richtig mit der Arbeit einsetzen, wenn das Leben in den Hörsälen begann. Ich reiste also am 17. April von Hamburg ab. Mein Schwager Max war etwas besorgt, mich so allein in eine ganz fremde Umgebung ziehen zu lassen. Er fragte, ob ich nicht wenigstens die erste Nacht bei Courants schlafen könnte, statt in der Studentenwohnung, die sie für Rose und mich besorgt hatten. Das lehnte ich natürlich ab. Ich meldete mich nur bei ihnen an, und Richard holte mich am Bahnhof ab, obgleich er gerade einen schlimmen Fuß hatte. Es war schon Abend, und er führte mich in der Dunkelheit in das neue Heim. Rose sollte erst einige Tage später aus Berlin kommen. Ich war sehr erfreut, als eine junge Frau mit hübschem, freundlichem Gesicht die Tür öffnete. Später gestand sie mir, daß auch sie bei meinem Anblick angenehm überrascht war. Sie hatte noch nie Studentinnen im Haus gehabt und dachte, sie seien alle alt und häßlich. Fast in jedem Bürgerhaus in Göttingen wohnten Studenten. Viele Wirtinnen nahmen grundsätzlich keine Damen auf. Manche hatten moralische Vorurteile. Andere fürchteten, daß ihre Küche zuviel zum Waschen, Kochen und Bügeln in Anspruch genommen würde oder daß im Zimmer durch einen Spirituskocher Schaden angerichtet würde. Es war sehr peinlich, wenn man Wohnung suchte und dann ein

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/184&oldid=- (Version vom 31.7.2018)