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mürrisches Gesicht durch einen Spalt herausguckte, um ein paar abweisende Worte zu murmeln. Wir hatten es also sehr gut getroffen.

Das Haus lag in der Langen Geismarstr., einer engen Kleinstadtgasse, die vom Innern der Stadt zum Albanikirchhof herauf führte; es war No. 2., dicht am Kirchhof – mit „Kirchhof“ werden in Göttingen die Kirchplätze bezeichnet. Der Albanikirchhof liegt an der Grenze der alten Stadt. Weiter außerhalb ziehen sich nette Villenstraßen mit den Häusern der Professoren und den vornehmeren Pensionen hin. St. Albani ist die älteste Kirche, hat eine ganz glatte Fassade und einen schweren Turm. Die Glocke läutete noch dreimal am Tage den Angelus und verriet dadurch ihre katholische Vergangenheit. Ich hörte das Läuten; seine Bedeutung kannte ich nicht. Gleich am Tage nach meiner Ankunft begann ich meine Erkundungsgänge. Von Kindheit an hatte es mir Freude gemacht, auf Entdeckungen auszugehen. Wenn Erna und ich in Breslau oder Hamburg allein spazieren geschickt wurden, sagte ich gewöhnlich: „Heute wollen wir aber wohingehen, wo wir noch nie gewesen sind“. Jetzt hatte ich eine ganze Stadt und ihre nähere und fernere Umgebung zu erobern. Es gab genug zu sehen. Man brauchte nur die Lange Geismarstr. hinunterzugehen und rechts um die Ecke zu biegen, dann war man gleich am Marktplatz. Da stand das schöne gotische Rathaus; an seinen Fenstern blühten rote Geranien, die lustig von den alten, grauen Steinen abstachen. Davor war der reizende Gänseliesel-Brunnen von Schaper. Nicht weit davon in einer Seitenstraße lag das schönste alte Haus von Göttingen, die „Mütze“ genannt, eine altdeutsche Weinstube mit Fachwerkgiebel und Butzenscheiben. Vom Markt gerade nach Norden führt die Hauptstraße der Stadt, die Weenderstr., in der nachmittags der große „Bummel“ stattfindet, zum Weender Tor, Auf der rechten Seite, etwa in der Mitte, erhebt sich das Wahrzeichen von Göttingen, der hohe Jakobikirchturm. Zusammen mit den beiden weniger stattlichen Türmen der Johanneskirche bestimmt er das Stadtbild, wenn man aus der Ferne darauf sieht. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite ist die berühmte Konditorei von Kron und Lanz, wo es die besten Torten gibt und wo Professoren und Studenten (soweit ihre Börse es erlaubt) den Nachmittagskaffee nehmen und Zeitungen lesen. Das letzte Haus am Weender Tor, auf der rechten Seite, ist das Auditorienhaus, der Mittelpunkt des Universitätslebens. Es ist kein Monumentalbau und kann sich weder mit unserer alten Breslauer Leopoldina noch mit den modernen Prunkbauten in Jena oder München messen: ein einfaches, nüchternes Haus mit einfachen, nüchternen Arbeitsräumen. Es liegt etwas zurück von der Straße, durch grüne Anlagen geschützt, in denen die Studenten in den freien Minuten zwischen

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/185&oldid=- (Version vom 23.8.2016)