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zwei Vorlesungen herumwandeln und ihre Zigaretten rauchen. Moderner und eleganter ist das nahegelegene Seminargebäude, rechts um die Ecke am Nikolausbergerweg; es war damals ganz neu. Dort waren die meisten Seminare untergebracht, ganz unter dem Dach – wie ich es fast überall gefunden habe – das Philosophische Seminar. Ganz getrennt davon war das Psychologische Institut: es lag in der Nähe der Johanniskirche, etwas westwärts vom Markt; ein altes Haus mit ausgetretenen Stufen und engen Zimmern. Die räumliche Trennung deutete schon an, daß Philosophie und Psychologie in Göttingen nichts miteinander zu tun hatten. Der Nikolausbergerweg führt vom Weender Tor in vielen Windungen ostwärts aus der Stadt hinaus und bergan. Wenn man die letzten Häuser hinter sich hat, sieht man auf der Höhe das reizende Dörfchen Nikolausberg liegen. Eingeweihte wußten, daß die Wirtin im Gasthaus besonders gute Waffeln zu backen verstand; wenn man sich vorher bei ihr zum Abendessen anmeldete und nach des Tages Last und Mühen hinaufstieg, bekam man eine dampfende Schüssel vorgesetzt. Das habe ich aber erst viel später erfahren. Links vom Nikolausberg erhob sich ein kahler Hügel mit drei windzerzausten Bäumen, die mich immer an die drei Kreuze auf Golgotha erinnerten.

Ich sah das alles gleich in den ersten Tagen, gelangte aber beim ersten Spaziergang vor die Stadt nicht hinauf, sondern seitwärts in einen Wiesengrund. Dabei machte ich mit der Bodenbeschaffenheit der Leineberge (auf Göttingisch: Laaneberge) Bekanntschaft: man kommt selten von einem Spaziergang ohne dicke Lehmklumpen an den Schuhen zurück. Auch das Straßenpflaster in der Stadt ist eigenartig – eine Sorte Asphalt, der abwechselnd von der Sonne und vom Regen aufgeweicht ist; häufiger vom Regen, da es in Göttingen sehr viel regnet. Die Einwohnerzahl betrug damals etwa 30000. Es gab keine Straßenbahn. Bis zum Kriege wurde immer darüber verhandelt, ob man eine bauen sollte. Nachher verbot es sich von selbst. Die Universität und die Studenten standen im Mittelpunkt des Lebens; es war eben eine „Universitätsstadt“, nicht – wie Breslau – eine Stadt, die u.a. auch eine Universität hatte.

Sehr auffallend waren mir die Gedenktafeln, die fast an jedem älteren Hause angebracht sind: sie berichten von früheren berühmten Bewohnern. So wird man auf Schritt und Tritt an die Vergangenheit erinnert: Die Brüder Grimm, die Physiker Gauß und Weber und die andern, die nicht zu den „Göttinger 7“ gehörten – alle, die einmal hier gelebt und gewirkt haben, werden den Nachlebenden beständig ins Gedächtnis gerufen. Es ist auch noch der alte Stadtwall erhalten, mit mächtigen, hohen Linden bepflanzt. Ihr Duft weht im Sommer in die Hörsäle herein (das Auditorienhaus

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/186&oldid=- (Version vom 31.7.2018)