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Tag durchlaufen, ohne an ein Ende zu kommen; meist auch, ohne einem Menschen zu begegnen. Die Göttinger machen keine weiten Märsche. Wenn wir am Sonntag erst nachmittags ausgingen, dann sahen wir sie in großen Scharen hinausziehen. Aber ihr Ziel war nur eine der beiden großen Kaffeestationen, die auf halber Höhe in angemessener Entfernung voneinander an jenem langgestreckten Hügel lagen: der „Rohns“ und der „Kehrs“. Die Bürgersleute waren von den Studenten deutlich zu unterscheiden dadurch, daß sie Hüte trugen, während Studenten und Studentinnen ohne Hut gingen. Außerdem waren sie alle mit großen Kuchenpaketen beladen. Wenn sie weiter wollten als bis zum Kehrs, dann fuhren sie in Kutschen. Die Sitte, den Kuchen aus der Stadt mitzunehmen, hatte zur Folge, daß man draußen in den Gasthäusern keinen bekam; es gab nur derbes Landbrot und Göttinger Wurst. Für größere Ausflüge nahmen wir unsern Proviant im Rucksack mit und hielten unsere Mahlzeiten im Walde: ein Schwarzbrot, eine Dose mit Butter, etwas Aufschnitt, Obst und Schokolade – das schmeckte besser als ein Diner im Gasthaus.

Auch nach den andern Seiten hin ist Göttingen von Hügeln und Wäldern umgeben; viel Buchenwald, der in Rot und Gold leuchtete, wenn man im Herbst zum Wintersemester kam. Und von den Höhen blicken alte Burgruinen ins Tal. Ich hatte eine besondere Vorliebe für die „Gleichen“, zwei Gipfel dicht nebeneinander, beide von Ruinen gekrönt. Auf dem Sattel zwischen den Gipfeln lag ein einfaches Gasthaus; darin war eine Chronik der Grafen von Gleichen, die einst da oben gehaust haben. Wenn wir von oben ins Tal hinabschauten, fühlte ich mich so recht im Herzen von Deutschland: eine liebliche Landschaft – an den Abhängen sorgfältig bebaute Felder, schmucke Dörfer und rings ein Kranz grüner Wälder. Es war, als könnte im nächsten Augenblick drüben am Waldrand ein Hochzeitszug heraustreten wie auf einem Bild von Ludwig Richter.

Auf den größeren Fahrten lernten wir Kassel und das Weserland, Goslar und den Harz kennen. Pfingsten machten wir eine mehrtägige Wanderung durch Thüringen. Wir stiegen von Eisenach zur Wartburg auf, gingen durch die Drachenschlucht zur Hohen Sonne, später auf dem Rennpfad zum Inselsberg. Streckenweise benützten wir die Bahn, um in den wenigen Tagen mehr kennenlernen zu können. Natürlich stand auch Weimar auf unserm Programm und den Abschluß sollte eine Besichtigung der Freien Schulgemeinde Wickersdorf bilden. Die ersten Tage hatten wir sehr schönes Wetter. Am dritten (wenn ich mich recht erinnere) begann es gegen Abend zu regnen. Wir waren seit dem Morgen unterwegs und wollten vor der Nacht Ilmenau erreichen, unser letztes Ziel vor Weimar.

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/188&oldid=- (Version vom 31.7.2018)