Seite:Edith Stein - Aus dem Leben einer jüdischen Familie.pdf/19

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

wie schon früher erwähnt, vom Großvater in den vorgeschriebenen Gebeten unterrichtet. Am Sonnabend nachmittag nahmen beide Eltern alle Kinder, die zu Hause waren, zusammen, um mit ihnen Vesper- und Abendgebet zu beten und es ihnen zu erklären. Das tägliche Schrift- und Talmudstudium, wie es in früheren Jahrhunderten als Pflicht jedes jüdischen Mannes galt und bei Ostjuden auch heute noch häufig gepflegt wird, war im Hause meiner Großeltern nicht mehr üblich. Aber alle gesetzlichen Vorschriften wurden aufs strengste beobachtet.

(Ich lasse nun folgen, was mir aus früheren Erzählungen meiner Mutter und meiner Geschwister in Erinnerung geblieben ist und was ich selbst miterlebt habe).

Über dem Sofa in unserm Wohnzimmer hängen die Bilder meiner Großeltern. Das feine, zarte Gesicht meiner Großmutter, von einem weißen Häubchen umrahmt, ist sehr ernst und spricht von viel Leiden. Sie starb lange vor meiner Geburt; was ich von ihr weiß, stammt also nur aus Erzählungen. Aber ich glaube, sie innerlich zu kennen und herauszufühlen, welche ihrer Töchter und Enkelinnen ihr besonders gleichen und was vielleicht in mir selbst von ihr herstammen mag. Noch heute klingt ehrfürchtige Scheu aus der Stimme meiner Mutter, wenn sie von ihr spricht. Die Kinder liefen mit ihren kleinen Nöten eher zum Vater als zu ihr. Zu meiner Großmutter ging man, wenn man ernsten Rat brauchte: nicht nur Mann und Kinder und Geschwister, auch viele Freunde. Adlige Damen von den großen Gütern der Umgegend fuhren oft in ihren Wagen vor, um sie zu besuchen und rechneten es sich zur Ehre an, sie als Freundin zu haben.

Mein Großvater guckt munter und humorvoll auf den Beschauer herab. An ihn habe ich noch eigene Erinnerungen. Er starb, als ich fünf Jahre alt war. Er war ein kleiner, lebhafter Mann. Wenn er uns in Breslau besuchte, zog er aus seinen Taschen für jedes Kind eine Tafel Schokolade. Aber auch die fremden Kinder auf der Straße wußten, daß er immer etwas für sie bei sich hatte. Wenn bei großen Familienfesten Torten mit schönen Verzierungen bereitstanden, holte er die kandierten Früchte herunter und steckte sie uns in den Mund. Er war immer voller lustiger Einfälle und unerschöpflich im Erzählen von Witzen. Als hervorragend tüchtiger Kaufmann hatte er sich aus den kleinsten Anfängen heraufgearbeitet, hatte 15 Kinder großgezogen und immer noch für andere, besonders für arme Verwandte, etwas übrig gehabt. Er lebte im eigenen, geräumigen Hause, umgeben von Kindern und Enkeln, und übte eine unbegrenzte Gastfreundschaft. Nicht nur in dem kleinen Städtchen, wo er wohnte, sondern in ganz Oberschlesien war er hochgeachtet. Das

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 8. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/19&oldid=- (Version vom 31.7.2018)