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Woche für die Vorträge angesetzt; aber er verstand die Zeit nicht einzuteilen, und zum Schluß drängte sich der Stoff so, daß wir täglich kommen mußten. Wenn der offizielle Teil vorbei war, blieb er mit einem kleineren Kreis noch stundenlang im Café zusammen. Ich habe nur ein- oder zweimal an diesen Nachsitzungen teilgenommen. So sehr ich darauf aus war, möglichst viel sachliche Anregungen zu erhaschen, so stieß mich doch hier etwas ab: der Ton, in dem von Husserl gesprochen wurde. Scheler war natürlich auch scharf gegen die idealistische Wendung und äußerte sich fast von oben herab; manche von den Jungen erlaubten sich nun einen ironischen Ton, und das empörte mich als Ehrfurchtslosigkeit und Undankbarkeit. Die Beziehungen zwischen Husserl und Scheler waren nicht ganz ungetrübt. Scheler betonte bei jeder Gelegenheit, daß er nicht Husserls Schüler sei, sondern selbständig die phänomenologische Methode gefunden habe. Allerdings hatte er nicht als Student bei ihm gehört, aber Husserl war doch von seiner Abhängigkeit überzeugt. Sie kannten sich schon seit vielen Jahren. Während Husserl noch Privatdozent in Halle war, lebte Scheler in dem nahen Jena; sie kamen häufig zusammen und standen in lebhaftem Gedankenaustausch. Wie leicht Scheler Anregungen von andern aufnahm, weiß jeder, der ihn gekannt oder auch nur seine Schriften aufmerksam gelesen hat. Es flogen ihm Ideen zu und arbeiteten in ihm weiter, ohne daß er selbst etwas von der Beeinflussung merkte. Er konnte mit gutem Gewissen sagen, es sei alles sein Eigentum. Zu diesem Wettstreit um die Priorität kam bei Husserl noch eine ernste Besorgnis für seine Schüler. Er gab sich die größte Mühe, uns zu strenger Sachlichkeit und Gründlichkeit, zu „radikaler intellektueller Ehrlichkeit“ zu erziehen. Schelers Art aber, geniale Anregungen auszustreuen, ohne ihnen systematisch nachzugehen, hatte etwas Blendendes und Verführerisches. Dazu kam, daß er von lebensnahen Fragen sprach, die jedem persönlich wichtig sind und besonders junge Menschen bewegen, nicht wie Husserl von nüchternen und abstrakten Dingen. Trotz dieser Spannungen bestand damals in Göttingen noch ein freundschaftlicher Verkehr zwischen beiden.

Der erste Eindruck, den Scheler machte, war faszinierend. Nie wieder ist mir an einem Menschen so rein das „Phänomen der Genialität“ entgegengetreten. Aus seinen großen blauen Augen leuchtete der Glanz einer höheren Welt. Sein Gesicht war schön und edel geschnitten, aber das Leben hatte verheerende Spuren darin hinterlassen. Betty Heymann sagte, er erinnere sie an das Bildnis des Dorian Gray: jenes geheimnisvolle Bild, in welches das wüste Leben des Originals seine entstellenden Linien zeichnete, während der Mensch seine unversehrte Jugendschönheit behielt. Scheler sprach

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 182. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/201&oldid=- (Version vom 31.7.2018)