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aber schon in ganz Deutschland berühmt oder eher berüchtigt durch sein Buch über „das sogenannte Erkenntnisproblem“. Darin hatte er mit großem Scharfsinn alle bedeutenden Vertreter der neuzeitlichen Erkenntnistheorie einen nach dem andern durch Nachweis formaler Widersprüche „getötet“. In seinem Kolleg – ich hörte seine „Kritik der praktischen Vernunft“ – verfuhr er nicht glimpflicher. Er hatte zwei schematische Zeichnungen zur Darstellung der typischen Widersprüche; sie wurden fast jede Stunde für neue Gegner an die Tafel gemalt und hießen bei den Hörern die „Guillotine“. Der einzige Überlebende auf dem Schlachtfeld war der Kant-Schüler Fries, nach dem Nelson seine eigene Philosophie benannte. Seine Ethik gipfelte in der Ableitung eines etwas abgewandelten kategorischen Imperativs. Überhaupt war die ganze Vorlesung eine lückenlose Deduktion aus einigen vorausgeschickten Thesen. Seinen Schlußfolgerungen konnte man sich schwer entziehen, aber ich hatte durchaus den Eindruck, daß in den Voraussetzungen Fehler steckten. Das Gefährliche war, daß er das, was er in seiner Ethik theoretisch ableitete, auch unweigerlich praktisch durchführte und dasselbe von seinen Schülern verlangte. Er hatte einen Kreis von jungen Menschen um sich (hauptsächlich Jugendbewegte), die sich ganz von ihm führen ließen und ihr Leben nach seinen Leitsätzen gestalteten. Richard Courant, der zeitweise selbst stark unter seinem Einfluß gestanden hatte, pflegte zu sagen: „Wie die Corpsstudenten zum Frühschoppen gehen, so gehen die Freischärler ins Nelsonkolleg“. Er war eine echte Führernatur; die Festigkeit seines Charakters, die Unbeugsamkeit seines Willens, die stille Leidenschaft seines sittlichen Idealismus gaben ihm Macht über andere. Äußerlich hatte er wenig Bestechendes. Er war groß und breitschultrig, sein Gang war schwer, schwer lagen die Lider über den hellblauen Augen, und auch seine Sprache klang schwer und etwas müde trotz der Entschiedenheit und dem Nachdruck, womit er alles vorbrachte. Das Gesicht war häßlich, aber anziehend; das Schönste an ihm waren die dichten, welligen blonden Haare. Er sprach ganz nüchtern und trocken; den Hauptgedankengang skizzierte er an die Tafel; der Schrift und den schematischen Zeichnungen sah man es an, daß er die Hand eines Malers hatte.

Es gab wenige Menschen, die er seines Verkehrs würdigte, ohne daß sie sich seiner Philosophie und seiner Lebensweise bedingungslos verschrieben. Zu diesen wenigen gehörte Rosa Heim, eine russische Jüdin, die schon seit Jahren in Göttingen Psychologie studierte. Ich hatte sie im Psychologischen Institut kennengelernt, und eines Tages, als ich auf der Straße mit ihr ging, begegneten wir Nelson. Sie begrüßte ihn, stellte mich vor und erklärte, wir müßten uns

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 186. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/205&oldid=- (Version vom 31.7.2018)