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zu gehen, weil der Anblick unseres alten Wohnhauses mir zu weh tat. Darum habe ich es auch niemals über mich gebracht, unsere guten früheren Wirtsleute zu besuchen. Der treue Danziger holte mich weiter zu Sonntagsspaziergängen ab. Ich konnte mir nur jetzt nicht mehr so viel Zeit dafür nehmen wie früher, weil ich ganz im Bann meines großen Arbeitsprogramms stand. Außerdem muß ich gestehen, daß der gute Junge mich etwas langweilte.

Moskiewicz war auch wiedergekommen; ich zog seine Gesellschaft bei weitem vor, obgleich der Verkehr mit ihm immer aufreibender wurde. Gewöhnlich bat er mich, den Sonntagnachmittag für ihn frei zu halten; aber ich mußte damit rechnen, daß am Vormittag ein Roter Radler einen Absagebrief brachte. Manchmal kam ein zweiter hinterher, der die Absage wieder zurücknahm. Ich nahm ihm das nicht übel, weil ich durchschaute, was dahinterstand. Die Phänomenologie war seine unglückliche Liebe. Sie hatte ihm die psychologische Arbeit verleidet, und er konnte dorthin nicht mehr zurückfinden; in der Phänomenologie aber kam er nie über die Anfangsschwierigkeiten hinaus und vermochte nichts Selbständiges darin zu leisten. Er glaubte, daß ich jetzt weiter sei als er und daß er jedes Zusammensein ausnützen müsse, um sich von mir vorwärtsbringen zu lassen. Anderseits fürchtete er diese Gespräche, weil sie ihn aufs neue entmutigten. Wenn wir von andern Dingen sprachen, war ihm wohl, aber das gönnte er sich selten. Er war hauptsächlich wieder nach Göttingen gekommen, weil Reinach ihm zugesagt hatte, daß er jede Woche einmal allein zu ihm kommen dürfe. Auf diese Nachmittage legte er den größten Wert, sie sollten ihm die Lösung aller Zweifel bringen. Ich erschrak darum heftig, als mir gegen Ende des Semesters Reinach einmal gestand, daß ihm diese Gespräche eine unerträgliche Last seien. Er wußte ja, daß ich Moskiewicz gut kannte, und wollte von mir ein Urteil hören. Er selbst hielt ihn für einen hoffnungslosen Fall. „Er soll doch bei seiner Psychologie bleiben, als Phänomenologe wird er nie etwas erreichen. Könnte man ihm das nicht einmal sagen?“ Ich bat ihn dringend, das ja nicht zu tun. So wie ich Moskiewicz’ nervöse Verfassung kannte, fürchtete ich, daß er einen solchen Schlag nicht überstehen würde. Reinach versprach auch gleich, nichts zu sagen und weiter geduldig immer wieder dieselben Zweifel und Bedenken anzuhören. Dagegen übernahm ich es, unauffällig dahinzuwirken, daß Mos seinen Aufenthalt in Göttingen nicht länger als diesen Winter ausdehne. Tatsächlich verbrachte er den folgenden Sommer in Frankfurt a.M., um sich dort durch die Anregungen bedeutender Psychologen (Wertheimer, Gelb, Köhler) weiterhelfen zu lassen.

Für mich brachte der Winter noch mehr philosophische Förderung

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 194. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/213&oldid=- (Version vom 31.7.2018)