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als der Sommer. Husserl las sein großes Kant-Kolleg. Vor allem aber erlaubte es mein Stundenplan, diesmal Reinachs Vorlesung (Einführung in die Philosophie) und seine Übungen für Fortgeschrittene mitzunehmen. Im Sommer hatte ich sein Kolleg nur manchmal gastweise gehört, wenn ich gerade die Stunde frei hatte. Es war eine reine Freude, ihm zuzuhören. Er hatte wohl ein Manuskript vor sich, schien aber kaum hineinzusehen. Er sprach in lebhaftem und fröhlichem Ton, leicht, frei und elegant, und alles war durchsichtig-klar und zwingend. Man hatte den Eindruck, daß es ihn gar keine Mühe kostete. Als ich später einmal diese Manuskripte ansehen durfte, bemerkte ich zu meinem größten Erstaunen, daß sie von Anfang bis zu Ende wörtlich ausgearbeitet waren, unter die letzte Vorlesung des Semesters pflegte er zu schreiben: „Fertig, Gott sei Dank!“ Alle diese Glanzleistungen waren das Ergebnis unsäglicher Mühen und Qualen.

Die Übungen hielt Reinach in seiner Wohnung. Da wir unmittelbar vorher Husserl-Kolleg hatten, gab es dann einen Dauerlauf von 20 Minuten hinauf zum Steingraben. Die Stunden in dem schönen Arbeitszimmer waren die glücklichsten in meiner ganzen Göttinger Zeit. Wir waren uns wohl alle darüber einig, daß wir hier methodisch am meisten lernten. Reinach besprach mit uns die Fragen, die ihn selbst in seiner eigenen Forscherarbeit gerade beschäftigten, in jenem Winter das Problem der Bewegung. Das war kein Dozieren und Lernen, sondern ein gemeinsames Suchen, ähnlich wie in der Philosophischen Gesellschaft, aber an der Hand eines sicheren Führers. Alle hatten vor unserem jungen Lehrer eine tiefe Ehrfurcht, hier wagte nicht leicht jemand ein vorschnelles Wort, ich hätte kaum gewagt, ungefragt den Mund aufzumachen. Einmal warf Reinach eine Frage auf und wollte wissen, wie ich darüber dächte. Ich hatte angestrengt mitüberlegt und sagte sehr schüchtern in wenigen Worten meine Ansicht. Er sah mich überaus freundlich an und sagte: „So habe ich es mir auch gedacht“. Eine höhere Auszeichnung hätte ich mir nicht vorstellen können. Aber auch diese Abende waren für ihn eine Qual. Wenn die zwei Stunden herum waren, wollte er das Wort „Bewegung“ gar nicht mehr hören. Es wurden ihm aus unserm Kreis damals gewisse Einwendungen gemacht, die ihn schließlich nötigten, den ursprünglichen Ansatz ganz aufzugeben. Er fing nach Ostern noch einmal ganz von vorn an. Auch diesen Bruch konnte ich später in seinen schriftlichen Entwürfen feststellen.

Abgesehen von der Philosophie beschränkte ich meine Vorlesungen jetzt auf ein Mindestmaß, um möglichst viel zu Hause arbeiten zu können. Ich begann mit der systematischen Vorbereitung für die mündliche Prüfung: für Geschichte, deutsche Literatur und

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 195. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/214&oldid=- (Version vom 31.7.2018)