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er sich ziemlich umsonst plage. Ich bekam ein nettes Zeugnis mit, von dem ich hoffen konnte, daß es mir später zum Ziel helfen werde.

Mit meiner übrigen Lernerei aber machte ich trübe Erfahrungen. Ich hatte gehofft, daß ein einmaliges Durcharbeiten genügen würde. Nach einigen Wochen aber stellte ich mit Entsetzen fest, daß vieles schon wieder meinem Gedächtnis entschwunden war. Wie sollte man es dann anstellen, um all diesen Kram zur rechten Stunde gegenwärtig zu haben? Diese Sorge aber wog noch leicht im Vergleich zu den Schmerzen, die mir meine philosophische Arbeit bereitete. Sie war ja bei weitem der größte Berg, den es in diesem Winter zu bewältigen galt. Ihr wurde auch der größte Teil des Tages gewidmet. Meine Tage waren recht lang; ich stand früh um sechs auf und arbeitete bis Mitternacht, fast ohne Unterbrechungen. Da ich meist allein aß, konnte ich auch während der Mahlzeiten nachdenken. Und wenn ich zu Bett ging, legte ich mir Papier und Bleistift auf dem Nachttisch zurecht, damit ich Gedanken, die mir nachts kämen, gleich festhalten könnte. Oft fuhr ich auf, weil mir im Traum etwas eingefallen war, was mir recht gescheit dünkte. Wenn ich es aber im Wachen fassen wollte, blieb mir nichts Greifbares. Auch auf dem Wege zur Universität grübelte ich beständig an meinem Einfühlungsproblem herum. Ich verbrachte oft einen großen Teil des Tages im Philosophischen Seminar, um dort die Werke von Th. Lipps zu studieren. Manchmal ging ich gar nicht zum Mittagessen, sondern nahm mir etwas Backwerk mit, das ich in einer kleinen Arbeitspause verspeiste. Wenn ich zur festgesetzten Zeit von der philosophischen Arbeit zu den andern Fächern überging, hatte ich immer das Gefühl, als ob mein Gehirn sich um 180° herumdrehen müßte. Ich las Buch um Buch, machte große Auszüge, und je mehr Material sich ansammelte, desto wirbliger wurde es in meinem Kopf. Was Husserl sich – nach seinen spärlichen Andeutungen – unter „Einfühlung“ dachte und was Lipps so nannte, hatte offenbar wenig miteinander zu tun. Bei Lipps war es geradezu der Zentralbegriff seiner Philosophie, es beherrschte seine Aesthetik, Ethik und Sozialphilosophie, spielte aber auch in der Erkenntnistheorie, Logik und Metaphysik eine Rolle. So mannigfaltig diese Gebiete, so vielfarbig schien mir der Begriff zu schillern, und ich quälte mich damit ab, etwas Einheitliches und Festes in den Griff zu bekommen, um von da aus alle Abwandlungen verstehen und entwickeln zu können. Zum erstenmal begegnete mir hier, was ich bei jeder späteren Arbeit wieder erfahren habe: Bücher nützten mir nichts, solange ich mir die fragliche Sache nicht in eigener Arbeit zur Klarheit gebracht hatte. Dieses Ringen nach Klarheit vollzog sich nun in mir unter großen Qualen und ließ mir Tag und

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 197. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/216&oldid=- (Version vom 31.7.2018)