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wenn keine Aussicht mehr bestand, seine hohe Gestalt und seine marineblaue Jacke irgendwo auftauchen zu sehen.

Kurz vor Weihnachten wurde der ganze Schülerkreis bei Reinachs zum Abendessen eingeladen. Ich hatte Frau Dr. Reinach bisher keinen Besuch gemacht, wie es die älteren Studentinnen taten. Vom Sehen kannte ich sie aus der Vorlesung ihres Mannes, die sie regelmäßig besuchte. Sie war groß und sehr schlank, ihre Bewegungen hatten etwas von der Anmut eines Rehs. Am meisten entzückte uns ihr unverfälschter schwäbischer Dialekt. Einmal ging sie den Steinsgraben hinauf vor mir her, als ich Reinach besuchen wollte. Vor der Tür zu ihrer Wohnung drehte sie sich um, begrüßte mich freundlich und sagte: „Sie wollen gewiß zu meinem Mann“. Dann nahm sie mich mit hinein und meldete mich gleich selbst bei ihm an. Nach Jahren erzählte sie mir, was ich damals nicht bemerkt hatte: Reinach hatte damals oben am Fenster gestanden und ihr entgegengesehen; sie rief nun halblaut hinauf: Adole (die Koseform von Adolf), Büble, Herzle! Er winkte entsetzt ab, weil er mich hinterherkommen sah, und machte ihr oben Vorwürfe, wie sie ihn so vor einer Schülerin blamieren könne.

An jenem Abend wurden wir im Salon empfangen, der mit seinen großen silbergrauen Plüschsesseln sehr vornehm, aber weniger behaglich wirkte als die andern Räume. Zum Essen wurden wir in Reinachs Arbeitszimmer gerufen – wohl, weil es geräumiger und heimelicher war als das Speisezimmer. Es war an kleinen Tischen gedeckt, und auf jedem stand ein brennendes Bäumchen; kein elektrisches Licht störte den warmen Kerzenschein, Wir standen vor dem entzückenden Anblick überrascht wie Kinder am Weihnachtsabend. Da unter den Gästen nur drei Damen waren, bestimmte Frau Reinach, daß jede sich an ein Tischchen setzen sollte; die Herren sollten sich dann nach eigener Wahl dazufinden. Sie selbst mußte den größten Tisch wählen, da die Hausfrau natürlich den Hauptanziehungspunkt bildete. Dort ging es auch am lustigsten zu. Einmal schnappte ich etwas von der Unterhaltung auf: Man sprach vom „Kampf um Rom“ – wahrscheinlich, mit welcher Begeisterung man früher die vier Bände verschlungen habe. Da tönte Frau Reinachs Stimme durchs ganze Zimmer: „Den hab’i nie kriegt!“ – Ich hatte das kleinste Tischchen gewählt, an dem nur drei Plätze waren. Meine Kavaliere waren Awkford, ein reicher Amerikaner, der auch in Lehmanns Kolleg mein Nachbar war, und Dr. Mense, den ich aus der Philosophischen Gesellschaft kannte – ein etwas düster und unstet aussehender Mensch, von dem wir später nie mehr etwas hörten.

Solche gesellige Veranstaltungen waren damals Lichtpunkte für

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Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 200. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/219&oldid=- (Version vom 31.7.2018)