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mich. Ich freute mich lange darauf und zehrte hinterher davon. Sie boten mir auch Stoff für meine Wochenberichte nach Hause, da ich von meinen Sorgen und Schmerzen doch nicht schreiben mochte.

Der Einzige, der wußte, daß ich mit dem Fortgang meiner Arbeit nicht zufrieden war – ohne aber zu vermuten, welche seelischen Qualen mir das bereitete – war Moskiewicz. Der Arme konnte mir natürlich selbst nicht helfen, aber einige Wochen vor Semesterschluß sagte er zu mir: „Warum gehen Sie eigentlich nicht einmal zu Reinach“. Und er redete mir solange zu, bis ich mich entschloß, seinem Rat zu folgen. Am nächsten Freitag, nach den Übungen, fragte ich, statt mich zu verabschieden, ob ich Reinach noch einen Augenblick allein sprechen könnte. Er sagte freundlich zu, aber ich mußte etwas warten, da noch andere Leute mit persönlichen Anliegen da waren. Er ging mit einem von ihnen in ein anderes Zimmer. Nach einer Weile holte er mich. Nun sagte ich ihm, daß ich gern einmal über meine Arbeit sprechen würde. „Aber es ist alles noch so unklar!“ fügte ich kleinlaut hinzu. „Nun, über die Unklarheiten wird man sich doch klar werden können“, erwiderte er. Das klang so herzlich und so fröhlich aufmunternd, daß ich mich schon etwas getröstet fühlte. Ich wurde zu einer ausführlichen Unterredung bestellt – ich weiß nicht mehr, ob schon für den nächsten Morgen. Als ich mit beklommenem Herzen kam, wurde ich in den bequemsten Klubsessel, dem Schreibtisch gegenüber, genötigt. Nun berichtete ich von den Stoffmassen, die ich angesammelt hatte, und von dem Plan, der mir vorschwebte, um in dieses Chaos Ordnung zu bringen. Reinach fand, daß ich doch schon sehr weit gekommen sei, und redete mir eindringlich zu, jetzt mit der Ausarbeitung zu beginnen. Es waren noch drei Wochen bis zum Semesterschluß. Dann sollte ich wiederkommen und berichten, was ich zustande gebracht hätte. Das war ein großer Entschluß, aber ich ging unverzüglich an die Ausführung. Es kostete eine so große geistige Anspannung wie noch nichts, was ich bisher gearbeitet hatte. Ich glaube, es kann sich davon kaum jemand eine Vorstellung machen, der nicht selbst schon schöpferisch-philosophisch gearbeitet hat. Dabei erinnere ich mich nicht, daß ich damals schon etwas von jenem tiefen Glück empfunden hätte, wie ich es später stets beim Arbeiten fühlte, wenn einmal die erste schmerzhafte Anstrengung überwunden war. Ich hatte noch nicht jene Stufe der Klarheit erreicht, auf der der Geist in einer gewonnenen Einsicht ruhen kann, von da aus neue Wege sich Öffnen sieht und sicher fortschreitet. Ich tastete wie im Nebel voran. Was ich niederschrieb, erschien mir selbst seltsam, und wenn jemand anders alles für Unsinn erklärt

Empfohlene Zitierweise:
Edith Stein: Aus dem Leben einer jüdischen Familie. Editions Nauwelaerts, Louvain 1965, Seite 201. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Edith_Stein_-_Aus_dem_Leben_einer_j%C3%BCdischen_Familie.pdf/220&oldid=- (Version vom 31.7.2018)